Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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Aleksandr Glück, aufgewachsen in einem sibirischen Lager, in dem während des Zweiten Weltkrieges Kollaborateure, unwichtige Kriegsgefangene und vor allem Deutschstämmige interniert waren, die generell Hochverrätern gleichgesetzt wurden, hatte früh gelernt, in der Stille der eigenen Gedanken die Dinge des Lebens zu verstehen. Und Entscheidungen zu treffen. Und so kam es für Professor Kellermann, der den Patienten noch in seliger Unwissenheit glaubte, völlig unerwartet, als der ihn bei einer der morgendlichen Visiten mit seinem Wissen um seinen baldigen Tod konfrontierte. Er bat den Chefarzt eindringlich um eine ehrliche Prognose. Kellermann legte sich auf höchstens sechs Monate fest, eher weniger.
Aber anders, als von seiner Umgebung erwartet, verfiel Glück nicht in Trauer und Resignation. Für das Gros derer, die mit einer solchen Aussage konfrontiert wurden, bedeutete das Rückzug und Depression. Sie verfielen in Selbstmitleid und ihre Gedanken kreisten, wie die Erde um die Sonne, unablässig um die eine, nie zu beantwortende Frage: warum ich?
Aleksandr Glück tröstete seine Frau, die, als er ihr die Nachricht versuchte schonend beizubringen, laut schreiend vor seinem Bett auf die Knie fiel.
»Wenn man, so wie ich, demnächst sterben muss, Schwester, dann verschieben sich die Relationen.« Er nahm ihre Hand. »Ich bin jetzt vier Wochen hier und an die meiste Zeit davon kann ich mich nicht erinnern.« Glück hatte achtzehn Tage im künstlichen Koma gelegen und war von Maschinen beatmet und ernährt worden. »Keiner weiß, warum die Flugzeuge abstürzen, warum kein Wasser läuft und …«
»… der Strom weg ist und keine Computer und Telefone funktionieren«, ergänzte Eva und putzte sich die Nase.
»Aber ich weiß«, fuhr Glück fort, »dass für mich heute ein schöner Tag ist. Sie sind hier Schwester und da die Station wohl fast leer ist, haben Sie ausnahmsweise einmal richtig Zeit für mich. Später wird meine Frau kommen und ich habe vielleicht noch nie einen so herrlich reinen Himmel gesehen wie heute«, sein Blick wanderte aus dem Fenster. »Nur dieses Brummen stört.«
»Das Notstromaggregat im Hof.«
Aleksandr Glück sah auf die batteriebetriebene Uhr über der Tür. Sie tickte weiter als sei nichts geschehen und zählte in regelmäßigen Intervallen die verfließende Zeit, egal ob es gute oder schlechte Zeit war. »Können Sie mir einen Kaffee bringen? Ich weiß, ich soll am besten Kamillentee trinken, aber von einem kleinen Tässchen werde ich bestimmt nicht gleich sterben.«
Eva stand mit einem wiedergefundenen Lächeln auf. »Mal sehen, was ich machen kann.«
10
09:03 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
Zwei Kategorien von Ängsten gibt es: Eine Angst macht den Ängstlichen klein und allein, lähmt ihn und er bleibt sitzen mit seiner Angst wie das Kaninchen vor der Schlange. Die andere Angst ist eine gute Angst, die herausfordert und den Ängstlichen dazu bringt, sich zu wehren und zu kämpfen. Diese Angst macht ihn stärker und frei, während die erste Angst festkettet und den Ängstlichen dem Auslöser der Angst hilflos ausliefert.
Thomas Bachmann wusste noch nicht genau, welcher Art seine aktuelle Angst sein sollte. Noch immer war er ohne Licht, noch immer verharrte die Fahrstuhlkabine zwischen Keller und Erdgeschoss des Krankenhauses. Geräusche drangen kaum bis zu ihm vor und wenn, dann aus undefinierbarer Ferne. Um Hilfe geschrien hatte er bislang noch nicht.
Hilfe. »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!«, hatte seine Großmutter immer gesagt und anschließend die Arbeiten verrichtet, für die eigentlich ein Mann zuständig gewesen wäre. Thomas’ Großvater fand selten Zeit, die Wünsche seiner Frau zu erfüllen. Also schlug sie selbst die Nägel in die Wand, schleppte Holz und Kohlen aus dem Schuppen über den eisglatten Hof und schlachtete Hühner.
Thomas spielte mit seinen heiligen Knöpfen. Der grüne Ball lag noch irgendwo in einer der Ecken der Kabine.
Das Haus seiner Großeltern war der Ort, den er als sein Zuhause bezeichnete. Genauer: die Küche seiner Großmutter. Noch genauer: Die kleine Kommode neben dem Herd war sein Zuhause (gewesen). Großmutters Küche war einer der seltsamsten Räume, die er jemals kennengelernt hatte. Die Küche war groß, mit niedriger Holzbalkendecke, von der Wärme und Geborgenheit in den Raum und seine Gäste strömte. In der hintersten Ecke hatte Großmutter, durch einen schweren dunklen Vorhang den neugierigen Blicken der seltenen Besucher verborgen, ihr Holzbett stehen gehabt. Großvater schlief in seinem Schlafzimmer.
Der Herd war Thomas immer riesig vorgekommen, mit emaillierten Türen und Klappen an der Front und einer Ofenröhre, in der meist die Reste vom Mittagessen warm gehalten wurden oder ein paar Äpfel schmorten. Über dem Herd hingen Kräuter an einer dürren Holzstange. Die Kräuter − Majoran, Oregano, Dill, Pfefferminze − wuchsen in Großmutters Garten. Am Samstag, dem Tag, den er von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang bei ihr verbringen durfte, sah er ihr oft stundenlang bei der Arbeit zu und lauschte den Geschichten, die sie nebenher erzählte.
Großmutter hatte sich jeden Tag für ihn eine neue Geschichte ausgedacht und nie wiederholte sie sich dabei. Am liebsten hörte er die Abenteuer von Schnipp-Schnapp, dem kleinen Fuchs: Es war ein wunderschöner Tag im Wald. Die Vögel zwitscherten und über den blauen Himmel trieben ein paar fröhliche Schönwetterwolken. Tief unten im Fuchsbau wurde unser Schnipp-Schnapp wach. Er gähnte – Großmutter gähnte – und streckte sich – Großmutter unterbrach kurz ihre Arbeit und streckte sich – dann kletterte er schnell aus dem Fuchsbau raus und rannte runter an den Bach.Dort wusch er sich das Fell, das Gesicht und die Pfoten (genau in dieser Reihenfolge!) und putzte seine spitzen Schnipp-Schnapp-Zähne. Als er wieder nach Hause kam, hatte seine Mutter schon eine Schüssel Heidelbeeren und eine dicke, fette Maus für ihn zurechtgelegt … So und niemals anders begann jede der unzähligen Geschichten von Schnippi.
Am Umfang der Kräuterbündel und an ihrer Farbe konnte Thomas immer ziemlich exakt die Jahreszeit ablesen. Drängten sich die prallen Bündel dicht aneinander und zeigten die Blättchen noch ein letztes Grün, war es Herbst und die Tage wurden kürzer. Hingen nur noch wenige kahle Stängel über dem Herd, ihre Farbe ein undefinierbares, schmutziges Grau, auf dem sich ebenso graue Staubfäden sammelten, war das Frühjahr nicht mehr weit und er suchte unter den Birken hinter dem Haus nach ersten Schneeglöckchen.
Hier bin ich zu dir gekommen, sagte Nummer eins.
Thomas nickte. Er drückte die Aktentasche noch etwas fester an sich. Er war damals erst sechs und sein Großvater wenige Wochen tot und in der linken Hosentasche wartete Thomas’ erster heiliger Knopf auf Großmutters Tod. Großmutter brachte fast täglich ein neues Bündel Kräuter aus dem Garten und, es war September, heizte bereits am Morgen den Emailherd an. Bei schönem Wetter − an diesem Tag war schönes Wetter − dauerte es oft lange, bis der Rauch des knisternden Holzfeuers den Weg durch den Schornstein hinauf aufs Dach des Bauernhauses gefunden hatte. Dicke, weißblaue Wolken quollen anfangs aus jeder Ritze des Herdes. Auf der Kochfläche des Herdes waren run de gusseiserne Platten eingelassen, die Großmutter manchmal mit einem Feuerhaken herausnahm, um einen besonders großen Scheit Holz, der nicht durch die Ofentür passte, ins Feuer zu legen. Der Qualm, der aus den Plattenritzen hervorkam, bildete kreisrunde Rauch kringel, wie vom gespitzten Mund eines rauchenden Riesen geformt. So wie damals.
Kräuter, der Geruch nach beißendem Qualm und die Pfannkuchen, die СКАЧАТЬ