Название: Hallo, hört mich jemand?
Автор: Sibel Schick
Издательство: Автор
Жанр: Социальная психология
isbn: 9783960428213
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Dieselbe Mehrheitsgesellschaft, die für das bloße Existenzrecht der Minderheiten Dankbarkeit erwartet, ist nicht in der Lage, selber Dankbarkeit zu zeigen, wenn sie durch die Arbeit der Minderheiten2 reich wurde, weil sich diese jahrelang kaputtschufteten.3 Nicht dass der Wert eines Menschen davon abhängig wäre, wie viel er leistet – das ist er nicht. Hier geht es nur um einen Doppelstandard.
In der BRD wie auch der DDR war man zwar auf ausländische Arbeiter*innen angewiesen, dennoch war Deutschland für diese Menschen nie ein Ort, der sie willkommen geheißen hat. Ihre Arbeit wurde ihnen nicht gedankt, sie selbst waren kaum mehr als lästig. Es gab kaum bis gar keine politischen Maßnahmen, die Arbeiter*innen vor rassistischen Übergriffen zu schützen oder sie als gleichberechtigter Teil der Bevölkerung aufzunehmen.
Sowohl die sogenannten Gast- als auch die Vertragsarbeiter*innen wohnten in Stadtteilen, Nachbarschaften und gar Wohnheimen, die eigens für sie bestimmt waren. Entweder war der Kontakt zu der Mehrheitsbevölkerung strikt verboten (wie in der DDR), oder sie waren durch ihren Wohnort oder die Natur ihrer Arbeit isoliert.
Von den sogenannten Vertragsarbeiter*innen der DDR hielten sich nicht alle an die Verbote und die strikten Regeln, und gingen trotz Sperrstunde abends aus dem Wohnheim. Allerdings bedeutete dies für sie Lebensgefahr. In den 40 Jahren SED-Diktatur wurden 8.600 rechtsradikale bzw. antisemitische und rassistische Übergriffe dokumentiert. Mindestens 12 Vertragsarbeiter*innen wurden in diesen Angriffen getötet. Der Historiker Harry Waibel zählt4 zwischen 1970 und 1990 insgesamt 40 rassistische Angriffe auf Wohnheime.
Die Wende ist gerade 30 Jahre her, die ersten Integrationskurse gibt es erst seit 16 Jahren. Die Erfahrungen der sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen und ihren Nachkommen mögen sich unterscheiden, allerdings haben ihre heutigen Probleme in einem Punkt einen ähnlichen Ursprung: Sie wurden jahrelang gezwungen, unter sich zu bleiben.5 Jede Generation, die in Deutschland in die Schule ging, brach diese Isolation ein wenig, allerdings nur in einem gewissen Rahmen und nur durch eigene Bemühungen. Schüler*innen in deutschen Schulen sind bis heute überwiegend nach Herkunft segregiert.6 Minderheiten wohnen in deutschen Städten bis heute überwiegend in politisch vernachlässigten Stadtteilen unter sich und Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft schicken ihre Kinder lieber in Schulen mit niedrigem Anteil an Migrant*innen.
Wir diskutieren über eine Parallelgesellschaft, bei der man an eine Art Unterwelt mit eigenen Gesetzen und Regeln denken muss, wie in einem dystopischen Sci-Fi-Film. Wir führen gewagte Diskussionen über eine angeblich gescheiterte Integration jener Gruppen, die doch gerade nicht integriert werden sollten oder durften. Diese Diskussionen über Integration sind gewagt, weil jene, die sich darüber beschweren, teilweise diejenigen sind, die für das Problem an erster Stelle verantwortlich sind. Gewagt, weil in dieser Diskussion die Ursache der angeblich gescheiterten Integration ausbleibt, nicht erwähnt wird, und betroffene Menschen selbst für die Missstände, unter denen sie leiden, verantwortlich gemacht werden.
In Deutschland leben circa 10 Millionen7 Menschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft. Das macht ungefähr ein Achtel der gesamten Gesellschaft aus. Davon haben 4,7 Millionen8 die Staatsbürgerschaft eines EU-Staates und 5,3 Millionen sind Bürger*innen eines sogenannten Drittstaates (außerhalb der EU).
Nach dem Vertrag von Maastricht (1992) haben die Staatsbürger*innen der EU-Länder ein EU-weites Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Das heißt sie dürfen in Deutschland an den Kommunalwahlen teilnehmen, solange sie ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. Allerdings gilt dieses Wahlrecht nicht für die Bundestagswahlen.
Die restlichen 5,3 Millionen Menschen aus Drittstaaten werden von demokratischen Verfahren komplett ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, ihre Steuern zahlen, ihre Kinder hier die Schule besuchen und wie lange sie schon hier leben. Sie haben kein Recht, das System, von dem sie betroffen sind, mitzugestalten. So wird ein Recht plötzlich zum Privileg.
Bei der Bundestagswahl 2017 wählten knapp sechs Millionen Deutsche die AfD. In einem Deutschland, in dem eine in Teilen rechtsradikale Partei im Bundestag und allen Landtagen vertreten ist und ihre Ergebnisse bei fast jeder Wahl verbessert, vermittelt der Ausschluss jener Menschen, die von der Politik ebenjener Partei betroffen sind, eine klare Botschaft: Ihr seid egal. Ihr seid nicht Teil dieser Gesellschaft.
Die Wähler*innen einer Partei, die menschenfeindliche Positionen vertritt, die die Nazizeit auf einen Vogelschiss reduziert und ebenjene Zugewanderte als Gesindel bezeichnet, die also in Teilen ganz klar faschistisch ist, werden als „besorgte Bürger“ und „Protestwähler“ verharmlost. Die Tatsache, dass AfD-Wähler*innen ihre Macht bewusst dafür einsetzen, eine undemokratische Partei zu wählen und damit anderen, insbesondere Minderheiten, Schaden zufügen, wird in dieser Diskussion nicht berücksichtigt. Ihre undemokratischen Interessen werden vor derer gestellt, die kein Wahlrecht haben und deren Treue zu europäischen Werten immer wieder infrage gestellt wird. Dadurch wird deutlich, dass es eben nicht um irgendwelche Werte geht, sondern vor allem um Herkunft. Nur diejenigen dürfen bestimmen, die nach Blut und Boden zu Europa gehören: Bei Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte wird es als Recht per Geburt eingesehen, eine undemokratische Partei mit den Mitteln der Demokratie zu legitimieren.
Was ist schon Integration, wenn nicht die Ermöglichung der Teilhabe? Und wenn diese Integration gescheitert sein soll, was können die Betroffene dafür, außer zu versuchen auf die Missstände hinzuweisen? Wem keine Teilhabe ermöglicht wird, kann nicht mitgestalten. Wer nicht mitgestalten darf, kann für sich keine Teilhabe ermöglichen. Es ist ein Teufelskreis.
Man könnte jetzt denken, dass man sich ohne Wahlrecht auch anderweitig einbringen kann. Zum Beispiel bei einem lokalen Verein. Allerdings kämpfen viele gemeinnützige Vereine, Verbände, Organisationen und Projekte ums Überleben. 2019 wurden Organisationen wie Attac, Campact und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten die Gemeinnützigkeit entzogen. Für betroffene bedeutet das vor allem eine finanzielle Katastrophe, die sich bis hin zur Insolvenz strecken kann. Aber auch, dass sie zum Beispiel kein Mitglied von Dach- und Fachverbänden mehr werden dürfen und sich nur begrenzt organisieren können. So ist auch die politische Arbeit für Menschenrechte und Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit in Deutschland voller Hürden.
Seit Anfang des Jahres werden bundesweit zwei Dritteln der bis 2019 geförderten Demokratisierungsprojekte nicht mehr finanziert. Es geht um ca. 200 Projekte, die sich beispielsweise gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Transfeindlichkeit, Homofeindlichkeit und andere Formen der Menschenfeindlichkeit einsetzen. In vielen dieser Strukturen arbeiten auch Menschen, die selber betroffen sind, und sich teilweise gegen ihre eigene Margina-lisierung wehren. Beruflich. Teilweise Vollzeit. Sie studieren, bilden sich zu Expert*innen aus und kämpfen. Während Menschen, die nicht marginalisiert sind, ihren Neigungen und Wünschen entsprechend einen Berufsweg wählen können, gehen viele Betroffene einen teils schmerzhaften, kräftezerrenden Weg für eine Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt sein sollen – nicht nur theoretisch, sondern auch in Wirklichkeit. Viele dieser Menschen stehen jetzt seit Anfang des Jahres ohne Arbeit da, weil die Strukturen, in denen sie tätig waren, nicht mehr gefördert werden.
Die Arbeit gegen Menschenfeindlichkeit in Deutschland ist eine Frage des Überlebens. Es ist kein Hobby.
Der Ausschluss aus politischer Teilhabe ist die eine Seite der aktuellen Lage. Der СКАЧАТЬ