Название: Menschen und andere Tiere
Автор: Mara-Daria Cojocaru
Издательство: Автор
Жанр: Афоризмы и цитаты
isbn: 9783534746446
isbn:
Natürlich wollte ich die, die mir nahestehen, davor bewahren, solch eine Ungerechtigkeit zu begehen. Es ging also nicht nur um die Tiere, sondern auch um die Leute, Familie, Freund*innen, die man ja als bessere Menschen sehen will. Davon zeugt der noch heute traurige, faule Schmerz, wenn ich daran denke, wie mein kluger, integerer Vater sich das Fleisch trotz allem schmecken ließ, ja, sogar Witze machte über mich und meinen Verzicht. Aus der Sorge um mein soziales Umfeld, in dem sich meine moralische Erkenntnis bewähren musste, entwickelte ich, wie so viele andere auch, unendliche Möglichkeiten, auf den gedankenlosen Fleischkonsum der anderen zu reagieren: verständnisvoll („Ja, klar muss es schmecken, aber probiere doch mal x?“), neckend („Oh, Fleisch-Salat!“), kritisch („Schon wieder Fleisch!“) oder sauer („Ihr versteht mich nicht …“). Ich glaube, in unseren Breitengraden hat jede*r schon einmal an einem Tisch gesessen, wo es um das Thema Fleisch ging, war dabei auf der ein oder anderen Seite und kann den Eindruck teilen: Das Miteinander stockt irgendwann. Auch wenn es manchmal so scheinen mag – Essen ist eben keine individuelle Angelegenheit, sondern eine sozial geteilte Praxis. Wer sie boykottiert oder „Extrawünsche“ anmeldet, macht sich nicht beliebt, auch wenn die Gründe einsichtig sind. Das gilt nicht nur für die spezifische Situation, wenn sich mehrere Menschen zum Kochen oder Abendessen verabreden, sondern auch für all die Praktiken, die im Hintergrund dafür sorgen, dass es überhaupt etwas zu essen geben kann, und die entscheiden, was das ist. Zu diesen Praktiken zählen mindestens die Landwirtschaft, die Lebensmittelindustrie und -forschung, der Markt und die Politik.
Nun kann man gesellschaftlich den Weg einschlagen, den man in Deutschland und anderen „satten“ Ländern augenscheinlich gegangen ist, und das bedeutet, Fleischverzicht und mehr noch Veganismus irgendwo zwischen Supererogation („Sollte man vielleicht, muss man aber nicht“) und privater Glaubensfrage („Wenn‘s dich glücklich macht“) einzuordnen. Deswegen wird man als Vegetarier*in heute toleriert und vegane Produkte werden als Randgruppenbedarf, der aber auch dann und wann mal für die „normalen“ Verbraucher*innen die Möglichkeit einer zwanglosen Abwechslung darstellt, in die Supermärkte integriert. So, wie man eine kulinarische Entdeckungsreise antreten oder etwas, das man aus dem Thailandurlaub kennt, nachkochen kann, wenn man im Spezialitätenregal zu Zitronengras und Kokosmilch greift, so kann man auch zu einer vielleicht primär moralischen Entdeckungsreise aufbrechen oder nachkochen, was man bei veganen Freund*innen gegessen hat, wenn man bei den veganen Produkten zugreift. Solche Konsumausflüge in eine andere, tierleidärmere Welt gelten dabei als irgendwie moralisch-pädagogisch wertvoll. Auf irgendeiner Ebene sind wir uns nämlich mittlerweile weitestgehend darüber einig, dass der gegenwärtige gewohnheitsmäßige Konsum von Tierprodukten, vor allem von Fleisch, keine Zukunft hat, und das aus mindestens fünf Gruppen von Gründen.
Die erste Gruppe hat klar mit den Tieren selbst zu tun. Das, was man standardmäßig in Deutschland im Supermarkt kaufen kann, entspricht vielfach nicht einmal den gesetzlichen Standards – da muss man sich nichts vormachen –, geschweige denn den moralischen Mindeststandards, welche die Mehrheit der Konsument*innen erwartet. Bevölkerungsumfragen mögen verzerrt sein, weil die Leute so antworten, wie es ihrer Meinung nach sozial erwartet wird; dennoch ist festzuhalten, dass 94 % der Europäer*innen Tierwohl für wichtig erachten. Damit bewegen sie sich auf einen Standpunkt zu, der sich aus den verschiedensten ethischen und religiösen Theorien ergibt und gesetzlich festgeschrieben ist: Empfindungsfähige Tiere sind keine Fleisch-, Milch-, Eier-, Woll- oder Sonstwas-für-Maschinen, sondern Wesen, die von starken Tierschutznormen (wenn auch nicht von Tierrechten) geschützt werden müssen. Deswegen empören sich Menschen, wenn Küken geschreddert werden. Deswegen können sie es nicht ertragen, wenn sie in manchen Tötungspraktiken Tierquälerei am Werke sehen. Und deswegen gucken viele schon gar nicht mehr genau hin, wenn eine entsprechende Tierquälerei mit dem eigenen Konsumverhalten in Verbindung steht.
Abgesehen von aufrichtigen oder scheinheiligen Tierschutzanliegen und Absichtsbekundungen sprechen aber auch die mit den hiesigen industriellen Haltungs- und Produktionsformen verbundenen Gesundheitsrisiken für eine Kehrtwende in all den Praktiken, die dafür sorgen, dass Menschen etwas zu essen haben. Es mutet ein wenig absurd an, es hier überhaupt noch anzuführen, aber die entsprechenden Risiken der industriellen Tierhaltung sind enorm und erstrecken sich von Parasiten und Salmonellen über diverse Grippen bis hin zu durch verabreichte Antibiotika auftretende multiresistente Bakterien, die EU-weit jährlich für Zigtausende Todesfälle verantwortlich sind. Hinzu kommen die Risiken so genannter Zivilisationskrankheiten, die durch Fleischkonsum zumindest steigen, auch wenn es hier weder um Monokausalität noch um Schuldzuschreibungen geht. Mein Punkt ist ja gerade, dass der oder die Einzelne in dieser Situation heillos überfordert ist und Systeme braucht.
Apropos Systeme: Damit ist nicht nur die Politik gemeint, sondern natürlich auch die Umwelt, die durch die Wasser- und Luftverschmutzung der industriellen Landwirtschaft massiv beeinträchtigt wird. Die lokal durch Monokulturen, Bodenverschmutzung und -erosion sowie durch einen hohen Wasserverbrauch entstehenden Probleme sind weithin bekannt und leicht im Bewusstsein. Auch die globale Dimension wird vielen über die Stichwörter „Treibhausgase“ und „Regenwaldrodung“ mehr oder weniger begreiflich sein. Sie äußert sich zudem in der oft übersehenen Zerstörung nicht industrieller Betriebe, vor allem im globalen Süden.
Diese wirtschaftliche Ungerechtigkeit manifestiert sich auch in unseren Breitengraden, nicht zuletzt durch eine problematische Gemeinsame Agrarpolitik der EU, die große, industrielle Betriebe bevorzugt – trotz aller Bemühungen um einen Green Deal. Von der Ausbeutung prekarisierter Arbeiter*innen in diesen Betrieben ist dabei noch gar nicht die Rede. Dass Erzeugnisse, die sich offenkundig auf dem Markt allein nicht durchsetzen können, subventioniert oder auf Kosten der Steuerzahler*innen gelagert werden, gehört zu den widersinnigen Gipfeln einer Politik, die einerseits liberal doziert, man solle doch „das Schnitzel nicht verteufeln“, und andererseits auf Schweinefleisch in Mensen und Milch in Schulen besteht.
Und während die Menschen in der EU den Hals mit solchen multipel problematischen Produkten zugespachtelt bekommen, fördert genau diese Politik Hunger und Armut auf der Welt, indem aus schlechter gestellten Regionen für menschliche Nahrungszwecke vollwertiges Getreide als Tierfutter exportiert wird und dort überhaupt für den Export statt für die lokale Bevölkerung gewirtschaftet wird. Zu allem Überfluss werden diese lokalen Märkte dann mit den Überschüssen der hiesigen Wirtschaft zugeschüttet, wenn es gerade passt. Das ist eine zutiefst menschenverachtende (!) und Nahrungsmittelunsicherheit generierende Praxis.
Zumindest auf Produkte aus industrieller Nutztierhaltung zu verzichten ist damit aus Gründen des Tierschutzes, der öffentlichen Gesundheit, der Umweltverträglichkeit, der wirtschaftlichen Fairness und der Nahrungsgerechtigkeit normativ derart überdeterminiert, dass sich manche Menschen zwischenzeitlich wohl schon genötigt fühlen, zu sagen, sie seien Vegetarier*innen, obwohl sie manchmal Fleisch essen.16 Das kann man für scheinheilig oder verwirrt halten oder für redliche Absicht … – und dann kam das Leben. Es steht jedenfalls fest, dass Formen der Tierhaltung, die tierquälerisch sind, die Gesundheitsrisiken darstellen, die Umwelt zerstören, den Wettbewerb verzerren und Ungerechtigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung produzieren, inakzeptabel sind, und das wird eigentlich auch eingesehen. Dass die bloße Nahrungsaufnahme auch deswegen keine Privatsache mehr sein kann, wissen all diejenigen, die Vegetarismus unter gewissen Bedingungen noch tolerieren können, Veganismus aber für eine „radikale“ und gefährliche Ideologie halten.
„Wie, du bist jetzt auch noch vegan?“ Abgesehen von dem skandalisierten Ton, in dem diese Identitätsbezeichnung meistens geäußert wird, hat sie mir noch nie gefallen – nicht nur, weil sie ausdrückt, dass man in den Augen von Familienmitgliedern und Freund*innen noch anstrengender geworden ist, sondern auch, weil ich nur nebensächlich „vegan“ lebe, das heißt, mein Veganismus ist Nebenprodukt des Denkprozesses, den ich später, lange nach der genannten Schlachthoferfahrung, noch einmal aufgenommen СКАЧАТЬ