Der evangelische Patient. Fabian Vogt
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Название: Der evangelische Patient

Автор: Fabian Vogt

Издательство: Bookwire

Жанр: Религия: прочее

Серия:

isbn: 9783374066322

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СКАЧАТЬ euch heilen, aber nicht am Sabbattag.‹«

      Anstatt das Wunder zu würdigen, sich mit der Frau zu freuen und sich zu fragen, ob es ihm eventuell selbst guttun könnte, den Blick frohgemut nach vorne zu richten, fängt er an, Gebote und Kirchenordnungen zu zitieren. Und diese Haltung finden wir in unseren Gemeinden öfter, als uns lieb sein darf. Sie glauben, das wäre übertrieben? Ist es nicht! Wir haben von einer Kollegin gehört, die durch ihr Zweites Theologisches Examen gefallen ist, allein weil sie sich falsch herum zum Altar gedreht hat. Wirklich! Insider wissen: In fast allen protestantischen Kirchen Deutschlands darf sich der Liturg nur über die Herzseite zum Herrn wenden, also linksherum. Sich rechtsrum zum Altar drehen gilt als grober Fehler. Die Frage bei dieser Kandidatin war also nicht, ob sie eine grandiose, bewegende Predigt gehalten hat, sondern, ob sie ein äußeres, von kaum jemanden verstandenes und zudem unbiblisches Ritual ausführen konnte oder nicht. Als hätte sich Jesus jemals dafür interessiert, in welche Richtung sich ein Mensch zum Altar dreht.

      Das mag ein extremes (und auch schon etwas älteres) Beispiel für institutionelle Verkrümmung sein, aber wenn es darum geht, bandscheibenzerstörende (Folter-) Bänke in Kirchen gegen bequeme Stühle auszutauschen, den Gottesdienst familienfreundlich von 9.00 Uhr auf 11.00 Uhr zu verlegen, ein nach dem Jahr 2000 komponiertes Lied zu singen oder an der Liturgie von 1853 erste Aktualisierungen durchzuführen, dann erleben wir oft sehr eindrücklich, wie sich eine an die Tradition gefesselte Kirche selbst lähmen kann. Wie der Blick nach innen den Blick nach außen verhindert.

      Wir reden zwar vom Aufrecht-Gehen, schauen uns aber ständig auf die Füße, beziehungsweise auf die Fußstapfen, die hinter uns liegen, anstatt den Weg zu betrachten, der vor uns liegt. Vermutlich hat Jesus deshalb den berühmten Satz vom Pflügen in die Welt gesetzt: »Wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.« Denn es gilt: Wer eine gerade Furche im Acker ziehen will, der muss dort hingucken, wo er hinwill. Wer dagegen nach hinten oder unten schaut, der fängt an, Schlangenlinien zu laufen. Sprich: Wer das Reich Gottes bauen will, der darf sich nicht von dem beherrschen lassen, was vergangen ist.

      Das klingt jetzt womöglich harsch, aber letztlich passiert in der Evangelischen Kirche heute an vielen Stellen das, was auch Jesus damals mit diesem Vorsteher erleben musste: Tradition ist vielerorts wichtiger als »Heilung«. Und da, wo Ansätze für heilende Prozesse erkennbar sind, werden Menschen aufgrund der kirchlichen Strukturen kritisiert oder ausgebremst. Noch einmal: Die Perspektive des hier für alle reaktionären Kräfte stehenden Synagogenvorstehers ist so eng, dass er im Grunde verkündet: »Gott darf nicht wirken, wenn er sich nicht an die vorgeschriebenen Traditionen hält.« Womit wir am Knackpunkt dieses von einer Heilung ausgelösten Konflikts wären: Die Institution ist wichtiger geworden als das Evangelium.

       Schluss mit der Frevelei!

      Jesus, der ja sonst in der Regel meist charmant und liebevoll agiert, ist darüber so entsetzt, dass er sein Gegenüber beschimpft: »Heuchler!« oder anders übersetzt: »Frevler« – was es ganz gut trifft, weil jemand, der im Namen Gottes gegen Gott agiert, natürlich ein Frevler ist. Aber auch der »Heuchler«-Vorwurf passt, weil Jesus anschließend erklärt: »Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?« Womit er deutlich macht: Eventuell könnte man tatsächlich darüber nachdenken, wann welche Gebote gelten sollen – dieses Recht darf sich aber niemand herausnehmen, der solche Gebote ohnehin missachtet, wenn es um seine eigenen Belange geht.

      Jesus kritisiert die Institution also in doppelter Weise: Es ist eine Schande, wenn Rituale über die Liebe gestellt werden; völlig zum Hohn wird das Ganze jedoch, wenn sich zeigt, wie sehr es hinter all diesen Regelungen menschelt und man sich zwar auf das Prinzip beruft, sich aber selbst keineswegs daran hält. Insofern ist auch die Verkrümmung eine doppelte: Die Institution nimmt sich wichtiger als Gott. Und sie betrügt sich und andere, weil sie im Bedarfsfall die Gesetze und die Tradition doch immer so auslegt, wie es ihr gefällt: »Die Liturgie ist wichtig, weil …«, »Der Gottesdienst muss immer um 10 Uhr sein, weil …«, »Dass man sich ausschließlich linksrum zum Altar drehen darf, sollte man beibehalten, weil …« Um diese Zerrissenheit zu überwinden, muss die Kirche die Kraft entwickeln, sich ihre Verbohrtheit auch einzugestehen.

      »Musste nicht diese Frau, die doch Abrahams Tochter ist, die schon achtzehn Jahre gebunden war, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?« Jesus konfrontiert die Institution mit der Not der Frau, um zum Ausdruck zu bringen: Gibt es für die Kirche überhaupt eine Alternative, als alles dafür zu tun, dass Heilung möglich wird? Ganz gleich, welches sakrosankte Kirchengesetz oder welche Tradition dagegensteht? Nun, zumindest unsere Geschichte endet gut: »Als er (Jesus) das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.«

       Wie das Reich Gottes wirkt

      Wie ein guter Filmregisseur hat uns der Erzähler im Lukasevangelium erst Jesus und die verkrümmte Frau gezeigt, die beiden anschließend für das Wunder zusammengebracht und uns dann die Geheilte als Jubelnde präsentiert, bevor er das Ganze (in Form eines Stimmungsumschwungs) eskalieren lässt. Der garstige Gegenspieler taucht auf, wird aber zum Glück überwunden – und am Schluss sind alle fröhlich. Happy End!

      Wesentlich für unsere Perspektive sind dabei einige zentrale Faktoren:

      •Ein sich verkrümmtes System kann sich nicht selbst heilen, weil es dadurch definiert ist, dass es nur nach innen schaut. Wie in dieser Heilungsgeschichte braucht das verkrümmte System Hilfe von außen. Um es fromm zu sagen: Es muss sich von Jesus neu rufen lassen. Es muss erkennen, an welchen Stellen die Institution die Schönheit des Glaubens nicht verkündet, sondern ihr im Weg steht. Und dann den Mut haben, die Hand an den Pflug zu legen, ohne zurückzuschauen.

      •Dem jesuanischen Ruf muss das verkrümmte System auch folgen. Heilung und Veränderung geschehen nur aktiv, niemals passiv. So wie die verkrümmte Frau sich zum Mitwirken einladen lässt, kann ein Heilungsprozess nur gelingen, wenn der Kranke daran beteiligt ist. Das gilt auch für längerfristige Entwicklungen. Jesus erzählt im Anschluss an dieses Heilungswunder die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig, um den Zuhörenden deutlich zu machen: Das Reich Gottes will sich Schritt für Schritt ausbreiten, also tu das Deine dazu.

      •Aufrichten muss man sich immer wieder. Darum sollte sich jede Institution, aber auch jedes Individuum regelmäßig fragen: »Stehe ich eigentlich zurzeit auf der Seite der Tradition oder der Heilung?« Geht es mir darum, liebgewordene Gewohnheiten zu bewahren, oder darum, in einer sich verändernden Gesellschaft die ständig neu zu kalibrierende Relevanz des Glaubens den jeweiligen Kommunikationsformen so anzupassen, dass Menschen davon »berührt« und »aufgerichtet« werden? Dass sie Mut bekommen, auch ihre individuelle Verkrümmung zu überwinden?

      Was das konkret für das Verständnis der Gemeindearbeit bedeuten kann, habe ich (Fabian) vor einigen Jahren bei einer Studienreise in Australien erlebt. Dort im Outback habe ich eine junge Pfarrerin kennengelernt und sie gefragt: »Kriegt ihr hier auf der anderen Seite der Erde eigentlich irgendwas von der deutschen Kirche mit?« Daraufhin hat sie grinsend geantwortet: »Mehr, als euch lieb ist.« Oh! »Was meinst du denn damit?«, habe ich sie gefragt, und sie hat erwidert: »Wir in Australien haben oft das Gefühl, dass ihr in Europa zu viel in ›Zäunen‹ denkt. Ja, man hat den Eindruck, bei vielen Verantwortlichen läuft durch den Kopf ein Zaun, der die Welt in zwei Gruppen teilt; diejenigen, die drin sind, und diejenigen, die draußen sind. Maßstab für alles ist die Institution. Der Blick nach innen. Deshalb definiert ihr die kirchliche Welt auch so gerne nach ›Drinnen‹ und ›Draußen‹, ›Dazugehören‹ oder ›Nicht-Dazugehören‹: Es gibt die Getauften und die Ungetauften. Die Kirchenmitglieder und die Ausgetretenen. Die Gottesdienstbesucher СКАЧАТЬ