Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert. Ulrich H. J. Körtner
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СКАЧАТЬ Verbindung von theologischem Denken und Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft spricht, vermag er in der Reformation geschichtlich und theologisch keinen epochalen Umbruch zu erkennen.

      Während Leppin die Reformation als kontinuierlichen Transformationsprozess beschreibt, interpretiert sie Hamm überzeugender mit Hilfe des Emergenzbegriffs. Auch Hamm rückt also von der traditionellen These von der Reformation als plötzlichem Umbruch ab, hält aber den Transformationsbegriff nicht für ausreichend, »um den systemsprengenden Innovationscharakter der Reformation insgesamt zu verstehen«11. Emergenz im Sinne Hamms bedeutet die »Verbindung von Kontinuität und qualitativem Sprung«12, der im Ergebnis doch zu Brüchen mit den bestehenden kirchlichen und theologischen Verhältnissen geführt hat, zum systemsprengenden Bruch nicht nur mit dem hierarchischen Prinzip in der Kirche und der Unterscheidung von Klerikern und Laien, sondern vor allem auch im Heilsverständnis und in der Rechtfertigungslehre.13 Verglichen mit der spätmittelalterlichen Barmherzigkeitstheologie, welche die Mitwirkung des Menschen an seinem Heil auf ein Minimum reduzierte, ist der Schritt zur Rechtfertigungslehre Luthers, wonach der Mensch rein gar nichts zu seinem Heil beisteuern kann, sondern allein aufgrund der göttlichen Gnade und allein aufgrund seines Glaubens an das ihn von seiner Sünde freisprechende Wort gerettet wird, einerseits »eine fast schon logische Fortsetzung« und andererseits doch »ein kontingenter qualitativer Sprung«14. Die Reformation bedeutet demnach nicht eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Gedanken der spätmittelalterlichen Theologie, sondern führt im Ergebnis durchaus zum Abbruch bisheriger Prozesse und zum Beginn von qualitativ neuen Entwicklungen. Der komplexe, systemtheoretisch begründete Emergenzbegriff Hamms, |16| der in sachlicher Nähe zu Modellen der Chaosforschung steht, stellt in Rechnung, dass man das Neue nicht ohne das Bisherige verstehen kann, betont aber, dass dies das Neue eben nicht lückenlos kausal ableiten lässt, weil das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, so dass man doch von einer überraschenden, sprunghaften Zäsur sprechen muss.15 Ähnlich argumentiert der Reformationshistoriker Heiko A. Oberman: Wer Luther ganz in der Kontinuität der franziskanisch-nominalistischen Theologie und ihrer Metaphysik verstehen wolle, werde der Innovationskraft des Wittenberger Reformators nicht gerecht. »Auf der Grundlage dieser Prämissen wird uns […] auch die intensivste Forschung keinerlei Erkenntnisse über Luthers Denken liefern.«16

      Die Einheit der Reformation besteht in der inneren Kohärenz der unterschiedlichen reformatorischen Bewegungen, jedoch nicht im Sinne von Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit. Im Blick auf die Vielfalt der Reformationen, sind wir durchaus berechtigt, von Reformationen im Plural zu sprechen. So ist neben der lutherischen Reformation die reformierte Reformation in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen. Außer durch Zwingli ist diese Reformation vor allem durch Johannes Calvin und Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger geprägt worden, zwischen denen eine enge Freundschaft und lebenslange Partnerschaft bestand. Sie reicht über den Consensus Tigurinus von 1549, die von Calvin und Bullinger geschlossene Übereinkunft in der Abendmahlsfrage, weit hinaus.

      Calvin (1509–1564) und Bullinger (1504–1575) repräsentieren die zweite Generation der Reformation. Abgesehen von den Unterschieden, die zwischen den politischen und soziokulturellen Kontexten der Reformation in lutherischen Gebieten einerseits, der Schweiz und Frankreich andererseits bestehen, hat sich auch die kirchliche Situation inzwischen grundlegend geändert. Luther glaubte noch an die eine Kirche, die an Haupt und Gliedern reformiert werden sollte. Calvin und Bullinger wirken dagegen zu einer Zeit, in der sich der konfessionelle Gegensatz zwischen Reformation und römischer Kirche verfestigte. Für Calvin besteht jedoch schon die Trennung der wahren |17| katholischen Kirche von der römischen Kirche, die sich der Wahrheit des Evangeliums verschließt. Seine Ekklesiologie und seine praktischen Kirchenreformen, welche auf die äußere und innere Ordnung der Kirche größten Wert legen, gehen nicht mehr von der Voraussetzung aus, dass die katholische Kirche in absehbarer Zeit auf den Weg der Reformation einschwenken könnte, sondern stellt den fundamentalen, um nicht zu sagen kontradiktorischen theologischen Gegensatz in Rechnung, wie er durch das Rechtfertigungsdekret des Konzils zu Trient (1545–1563) markiert wird.

      Calvin war der erste evangelische Theologe, der das 1546 verabschiedete tridentinische Rechtfertigungsdekret einer gründlichen Kritik unterzog.17 In seiner Streitschrift von 1547, die den Titel »Gegengift« trägt, bringt Calvin den Gegensatz und damit auch die durch Luther erstmals klar ausformulierte Rechtfertigungslehre auf den Punkt, nachdem sich zuvor das Tridentinum in seiner sechsten Sitzung 1546 ausdrücklich gegen Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und Calvins Lehre von der Erwählungsgewissheit gewandt hatte. Für Luther bedeutet Glaube unbedingte Heilsgewissheit (certitudo), die freilich von jeder äußeren Sicherheit (securitas) zu unterscheiden ist. Nach Calvin gründet die Gewissheit des Glaubens in der bedingungslosen Gnadenwahl Gottes. Dagegen erklärt das Konzil zu Trient, niemand könne mit solcher Gewissheit (certitudo) des Glaubens wissen, dass er die Gnade Gottes erlangt habe.18 Es sei eine Irrlehre zu behaupten, »daß diejenigen, die wahrhaft gerechtfertigt wurden, völlig ohne jeden Zweifel bei sich selbst feststellen müßten, sie seien gerechtfertigt, und daß nur der von den Sünden losgesprochen und gerechtfertigt werde, der fest glaube, er sei losgesprochen und gerechtfertigt worden, und daß allein durch diesen Glauben [sola fide] die Lossprechung und Rechtfertigung vollendet werde«.19

      Calvin kontert: »Die Zerstörung des Glaubens und die Aufhebung der Gewissheit ist ein und dasselbe.«20 Wenn die römische Kirche |18| lehrt, dass der Mensch erst dann gerechtfertigt wird, wenn er zum Gehorsam gegenüber Gott und zur Erfüllung seiner Gebote gebessert werde, würde die Argumentation des Apostels Paulus auf den Kopf gestellt. Dass Rechtfertigung und Heiligung zusammengehören, steht für Calvin außer Frage, beides ist aber nicht dasselbe.21 Und keinesfalls sei der Glaube im reformatorischen Sinne mit einer unangefochtenen Selbstsicherheit zu verwechseln. »Weit entfernt, daß für uns die Zuversicht des ewigen Lebens […] sicher und unerschütterlich feststeht.«22 Solange der Glaubende nur auf sich selbst schaut, kann es weder Gewissheit noch Sicherheit geben. Der Hauptpunkt der Kontroverse dreht sich um die Frage, auf welche Weise der Mensch vor Gott gerechtfertigt wird. Calvins Antwort lautet: »Gott ist uns deshalb gnädig, weil er mit uns durch den Tod Christi versöhnt ist. Wir werden deshalb vor ihm selbst als gerecht beurteilt, weil unsere Ungerechtigkeiten durch jenes Opfer gesühnt sind.«23 Der Grund der Rechtfertigung besteht einzig und allein in der freien und gnädigen Annahme durch Gott. Dieser Grund liegt außerhalb des glaubenden Menschen (extra nos): »weil wir allein in Christus (in solo Christo) gerecht sind«24. Es ist diese Bedingungslosigkeit der rechtfertigenden Gnade Gottes, die den Systembruch mit der katholischen Kirche und ihrer Lehre markiert.

      Luthers Formeln »allein durch den Glauben«, »allein aus Gnaden«, »Christus allein«, »allein die Schrift« finden sich wörtlich bei Calvin wieder. Dennoch darf die reformierte Reformation nicht allein an ihrer Übereinstimmung mit Luther gemessen werden, wie es auch historisch nicht sachgemäß ist, »das Reformatorische auf die Rechtfertigungslehre und die daraus unmittelbar abgeleitete Kirchenkritik zu begrenzen«25. Sehr wohl aber kann man in der Rechtfertigungslehre »die impulsgebende Mitte der Reformation«26 finden. Das ist, wie Calvins Antwort auf das Tridentinum zeigt, keineswegs eine unhistorische Behauptung späterer Generationen, sondern entspricht zumindest Calvins eigenem Verständnis von Reformation und Gegenreformation.

      |19| Kann und muss man von zwei Reformationen sprechen, so ist dagegen die Rede von einer »zweiten Reformation« irreführend, den Jürgen Moltmann unter irrtümlicher Bezugnahme auf eine Äußerung des Melanchthon-Schülers Christoph Pezels in die Forschung eingeführt hat.27 Wie Moltmann versteht auch Heinz Schilling unter zweiter Reformation die Ausbildung eines reformierten Bekenntnisses oder einer reformierten Landeskirche in vormals lutherischen Gebieten in Deutschland.28 Die durch Luther eingeleitete Entwicklung wäre demnach als »erste Reformation« zu verstehen, womit abermals einseitig historiographisch und systematisch die Normativität Luthers behauptet würde. Stattdessen spricht man heute neutral von »Konfessionalisierung« und unterscheidet eine reformierte von einer lutherischen und einer katholischen Konfessionalisierung.29

      Bei allen СКАЧАТЬ