Der Mitläufer. Wolfgang Mock
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Название: Der Mitläufer

Автор: Wolfgang Mock

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783947373482

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СКАЧАТЬ kaum mehr erträglich sein. Schrecklich, dachte ich, schrecklich, das einmal nicht mehr erleben zu können. Ich streckte mich, und für einen Moment kam ich dem alten Gefühl, bis ich vierzig wurde, nah: dem Gefühl, unsterblich zu sein. Das Kreischen der in den Hinterhöfen um ihr Revier kämpfenden Vögel wurde lauter, ich warf die dünne Bettdecke zur Seite. Entsetzlich, dass das einmal vorbei sein sollte.

      Malcolm McLaren, überlegte ich faul, oder Messiaen? Walking with Satie oder Réveil des Oiseaux? Ich stieg aus dem Bett, entschied mich für McLarens Walking with Satie und legte mich wieder hin. Leise summte ich das Lied mit, während McLaren durch das frühlingsbelebte Paris streunte.

      Ach, Chrissie.

      Ich dämmerte wieder ein, aber gegen den Lärm der Vögel kam ich nicht an. Ein Zeichen, sagte ich mir, stand auf, stellte mich ans Fenster, wunderte mich, wie wenig Vögel überhaupt zu sehen waren, freute mich über die Andeutungen einer Erektion und ließ meine Gedanken von der Leine. Sie sprinteten direkt zu Cheyenne. Cheyenne. Stolze Indianerin. Von wegen. Brotverkäuferin auf dem Markt. Die letzten Wochen, als mich die Hitze früh aus dem Bett trieb, hatte ich immer, wenn Zeit war, mein Brot bei ihr gekauft. Ich ließ mir immer eine besondere Frischhaltetüte geben, die extra kostete und in einem Regal tief unten hinter ihr lag. Wenn Cheyenne sich danach bückte, flatterte ein Tattoo von geflügelten Schlangen aus ihrer knappen Hose. So eine Schlange, das wär’s. Zumal sich bei mir die Überzeugung festgesetzt hatte, dass Cheyenne sich besonders lange bückte, um den geflügelten Fabelwesen alle Zeit der Welt zu lassen, aus ihrer Hose unter das Hemdchen zu flattern. Ich glaubte, einen gewissen Spott in ihren Augen zu sehen, als sie sich aufrichtete und ich ihrem Blick etwas fahrig auswich.

      Ich hielt den Kopf unter die Dusche und zog mein Fahrradtrikot an. Was mir schon jetzt zu warm vorkam. Ich goss lauwarme Milch und Ahornsirup über eine Schale mit Dinkel-Cornflakes. Dann holte ich Alexanders Todesanzeige, lehnte sie an die Sirupflasche und aß meine Cornflakes.

      Alexander war gestorben, wie er es wollte. Sein Ende hatte er selbst bestimmt. Mich hatte das viel Kraft gekostet, Panikattacken, schweißgebadete Träume – bis heute. Die Beerdigung würde dem ein Ende machen. Meine Angst war verschwunden. Beerdigung hieß auch, dass sie den Leichnam freigegeben hatten. Wenn es auch gedauert hatte, was meine Nerven erheblich strapazierte. Metas wohl auch. »Frank«, hatte sie gestern noch am Telefon gesagt, »Frank, es ist vorbei.« Danach war mir so leicht wie lange nicht.

      Ich nahm noch einen Schluck warmen Roibos-Tee, was mir einen Schweißausbruch bescherte. Alle würden sie da sein. Gemeinsam hatten wir Alexander für die Zeit, die ihm noch geblieben war, begleitet. Jetzt würden wir uns auch gemeinsam von ihm verabschieden. Wahrscheinlich würde es das letzte Mal sein, dass die Wohngemeinschaft vollzählig war. Selbst wenn einer nur als Toter dabei war.

      Ich füllte die Trinkflasche mit Apfelschorle, warf noch eine Magnesium-Tablette hinein und steckte mir die Flasche ins Trikot. Mein Mountainbike, das ich im vergangenen Jahr in einem dieser hypermodernen Fahrradgeschäfte gegen einen ordentlichen Haufen Geld eingetauscht hatte, hing eins a geputzt im Flur an der Wand. Ich fuhr mit dem Finger über die Kette, wischte ein paar Ölreste ab. Dann zog ich die Fahrradschuhe an; die harten Sohlen machten ein klackendes Geräusch auf dem Parkett, als ich das Fahrrad vom Haken nahm und die Treppe runterlief.

      Auf der Straße war die Hitze des Tages schon zu ahnen. Die Uhr zeigte kurz vor fünf. Kein Mensch zu sehen. Die Stille wurde verstärkt durch das ferne Echo von Schritten. Ich hatte Zeit. Gegen zwölf würde sowieso alles vorbei sein. Alexander hatte immer einen Riesenkult um dieses »fünf vor zwölf« gemacht. Für ihn war es eigentlich immer »fünf vor zwölf« gewesen.

      Inständig hoffte ich, dass sich das Begräbnis heute nicht so in die Länge ziehen würde. In den kommenden Tagen stand ein Treffen mit der Geschäftsleitung an. Großes zeichnete sich ab. Verlegerischer Geschäftsführer, so etwas in der Art. Das könnte ich noch ein paar Jahre über die normale Altersgrenze hinaus machen, dann mit dem Bundesverdienstkreuz aufhören. Jetzt konnte auch Alexander da nicht mehr reingrätschen.

      Ich schwang mich aufs Rad, aber irgendetwas war anders. Ich griff mir an den Schädel. Der Helm. Ich hatte meinen Helm vergessen. Das war mir noch nie passiert. Ich war nicht bei der Sache, Alexander beschäftigte mich. Alexander in den Siebzigern. Und meine unberechenbare Lebensphase. Von der ich immer gehofft hatte, dass niemand etwas wusste. Was sich aber als falsch erwiesen hatte. Ich würde aufpassen müssen. Aber es ist ja vorbei, endgültig vorbei, murmelte ich vor mich hin. Mit Alexander war das endgültig beerdigt. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach und wie ich plötzlich den Tränen nah war.

      Unterwegs würde ich wirklich auf mich aufpassen müssen.

      Ich stellte das Rad zurück in den Hausflur, lief die Treppe hoch. Schon vor der Wohnungstür hörte ich es. Als ich aufschloss, stand ich unversehens in einem Geflatter und Gezwitscher von drei, vier Spatzen, die sich an dem wehenden Vorhang vorbei in die Wohnung gewagt hatten und den Weg zurück nicht fanden. Ich schloss eine Zimmertür nach der anderen, bis ich sie ins Schlafzimmer getrieben hatte, zog den Vorhang zur Seite, und Spatz für Spatz flatterte ins Freie.

      Ich holte meinen Helm, lief die Treppe runter. Doch dort, wo ich das Rad hingestellt hatte, glänzte nur der Marmor des Treppenhauses. Ich riss die Haustür auf, die Straßen waren leer.

      »Scheiße! Verfluchte Scheiße!«, schrie ich in den Morgen. Nahm das denn nie ein Ende? Jahre ohne richtigen Schlaf. Immer die Angst, dass sie mich aufstöberten, dass es vorbei war mit allem. Und dann Alexander mit seinem unsäglichen Anliegen. Der alles wieder hochbrachte. Die ewige Angst, die Panik. Die Augen von Wenzel, als er mir die Knarre in die Hand drückte. Und jetzt, wo alles vorbei war, klaute mir irgend so ein Arschloch mein neues Rad. Wenzels Knarre. Wenn ich sie jetzt in der Hand hielte, würde ich den Idioten vom Rad schießen. In der Verfassung war ich. Ich zog die Nase hoch. Vermutlich ja doch nicht. Ganz sicher nicht. Außerdem war er längst weg.

      Ich ließ mich auf die Stufen fallen, den behelmten Kopf in den Händen, und weinte.

      Nichts hat mehr Bestand

      Thomas wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge. Selbst das wenige, das von damals noch Bestand zu haben schien, löste sich auf. Vorbei, dachte Thomas, so vieles ging spurlos vorbei. Ohne jedes Drama, zumindest ohne großes.

      In der Wohnung über ihm hörte er Romy rumoren. Hier hatte etwas sein Ende gefunden, so unaufgeregt, dass es Tage dauerte, bis er spürte, was für ein Schreck ihm in die Glieder gefahren war. Vor drei Monaten, nach mehr als vierzig gemeinsamen Jahren, war sie eines Morgens aufgestanden, starrte vor sich hin und sagte mit leiser Stimme, sie ertrage ihn nicht mehr. Genau das hatte sie gesagt: »Ich ertrage dich nicht mehr.«

      Thomas erfuhr nie, ob es etwas damit zu tun hatte, aber am Tag zuvor hatten sie Alexander in seiner Wohnung besucht, der spöttisch unter seiner Atemmaske hervorlächelte und zwischen zwei Hustenanfällen gekrächzt hatte: »Ihr geht wohl nirgendwo allein hin.« Einer seiner Sprüche, dachte Thomas, um Haltung bemüht angesichts des nahen Endes, so etwas in der Art. Was ihn aber auch irritierte.

      Romy schien wie vom Blitz getroffen. Hatte einen Moment ruhig neben Alexanders Bett gestanden, ihn angesehen und dann angefangen, sich mit beiden Händen das Gesicht zu reiben, mit aller Kraft. Dann hatte sie ihre schmalen Schultern gestrafft und sich die kurzen, rostroten Haare aus der Stirn gestrichen. Am Abend war sie wortlos früh zu Bett gegangen, und dann am nächsten Morgen fiel der Satz. »Ich ertrage dich nicht mehr.« Sie hatte sich das nicht überlegt, es war nicht das Ergebnis langen Nachdenkens, es war eine Offenbarung. So hörte es sich für Thomas an. »Ich ertrage dich nicht mehr.« Und eine Offenbarung ließ sich nicht erklären, sie hatte keine Logik.

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