Warum der freie Wille existiert. Christian List
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Название: Warum der freie Wille existiert

Автор: Christian List

Издательство: Автор

Жанр: Афоризмы и цитаты

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isbn: 9783534746569

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СКАЧАТЬ Zuschreibung von Intentionalität nichts an ihrer Fiktionalität, und in unseren besten wissenschaftlichen Erklärungen von Gehirn und Verhalten haben Zuschreibungen von Intentionalität keinen Platz. Selbst dann, wenn wir uns zu praktischen Zwecken weiterhin gegenseitig als intentionale Akteure verstehen, dürfen wir erwarten, dass Zuschreibungen von Intentionalität im Zuge eines immer weiter fortschreitenden Verständnisses der Biologie und Psychologie aus der Wissenschaft verschwinden werden.

      Betrachten Sie nur die Neigung unserer Vorfahren, vielen natürlichen Phänomenen Absichten und Zwecke zuzuschreiben. Nicht nur im Verhalten von Menschen und Tieren pflegten die Menschen intentionales Handeln zu sehen, sondern auch in vielen anderen empirischen Phänomenen, vom Wetter bis zur Pest. Intentionalität, so dachten sie, sei allgegenwärtig. Sie glaubten an die Existenz nicht greifbarer Akteure wie Geister und Dämonen, welche die materielle Welt beeinflussen konnten. Unsere Vorfahren mögen beispielsweise einen Sturm oder Blitz als eine Erscheinung betrachtet haben, in der sich die Absichten eines übernatürlichen Wesens äußern. In solchen Fällen hatte die ansonsten nützliche menschliche Disposition, die Welt intentional zu deuten, gewisse Nebenwirkungen: Sie führte zu einem Übermaß an Zuschreibungen von Intentionalität.

      Eine schöne Illustration dieser Tendenz zu einer übermäßigen Zuschreibung von Intentionalität liefert eine klassische psychologische Studie aus den 1940er Jahren.2 Die Teilnehmer wurden gebeten, die Bewegungen einfacher geometrischer Figuren in einem Animationsfilm zu beschreiben und deuten. Es fiel auf, dass sie dabei intentionale Begriffe verwendeten und diesen Figuren Zwecke und Motive zuschrieben, obwohl es sich dabei nur um Dreiecke und Kreise handelte, die sich auf dem Bildschirm herumbewegten. Wie Ilkka Pyysiäinen und andere festgestellt haben, könnte diese Tendenz, immer dann von Intentionalitätszuschreibungen Gebrauch zu machen, wenn wir bestimmte Bewegungsmuster sehen, erklären, warum der Glaube an übernatürliche Akteure bei Menschen so verbreitet ist.3 Menschen würden bestimmten Erscheinungen der natürlichen Welt, sei es ein Sturm oder eine Krankheit, eher Intentionalität zuschreiben, als dass sie diese auf rein physikalische, nichtintentionale Ursachen zurückführten.

      Zug um Zug hat die Wissenschaft den Bereich des „Intentionalen“ reduziert. Menschen betrachten wir immer noch als intentionale Akteure, und vielleicht tun wir dies auch im Falle von Katzen, Hunden und anderen komplexen Tieren, aber wir glauben im Allgemeinen nicht mehr an Geister und Dämonen, und was die meisten anderen natürlichen Phänomene angeht, so geben wir nichtintentionalen Erklärungen den Vorzug. Wie es die zweite Prämisse des kleinen Syllogismus am Anfang dieses Kapitels formuliert, nimmt die These des „radikalen Materialismus“ an, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis ein neurowissenschaftliches Verständnis des Gehirns die Intentionalität ganz aus der Wissenschaft verdrängen werde. Derzeit ist die Psychologie eine der letzten Bastionen des intentionalitätsgeladenen Diskurses in der Wissenschaft, aber der radikale Materialismus postuliert, dass die intentionale Begrifflichkeit schließlich komplett aus der Wissenschaft verschwinden werde. Philosophen bezeichnen diese These auch als „eliminativen Materialismus“.4

      Vertreter der materialistischen These wie Paul Churchland sind der Auffassung, dass die Alltagspsychologie ein „stagnierendes und degenerierendes Forschungsprogramm“ darstelle.5 Erstens lasse sie viele wichtige Fragen über das menschliche Gehirn und Verhalten unbeantwortet: Was ist die Erklärung für den Schlaf? Wie sind Wahrnehmungsillusionen zu erklären? Wie funktioniert das Gedächtnis?6 Aber noch problematischer sei, dass sich die Alltagspsychologie auf die überholte Vorstellung stütze, dass der Handelnde mittels innerer Zustände wie Überzeugungen und Wünsche, deren physikalische Lokalisierung im Gehirn schwierig ist, mentale Repräsentationen der Welt ausbilde. Wie Churchland erklärt:

      „[E]in System propositionaler Einstellungen [wie etwa Überzeugungen, Wünsche und Absichten] […] muss unausweichlich an dem Versuch scheitern, einzufangen, was hier abläuft, obwohl es gerade genug oberflächliche Strukturen reflektieren mag, um eine der Alchemie ähnliche Tradition bei Leuten zu erhalten, denen es an einer besseren Theorie mangelt. Aus der Perspektive der neueren Theorie [d.h. der Neurowissenschaft] ist es jedoch offenkundig, dass es einfach keine gesetzesmäßigen Zustände der Art gibt, wie sie die Alltagspsychologie postuliert. Die wirklichen Gesetze, die unsere internen Aktivitäten leiten, werden über andere und viel komplexere kinematische Zustände und Konfigurationen [wie neuronale Gehirnzustände] definiert.“7

      Dementsprechend präsentieren viele neuere Vorstöße in der Neurowissenschaft Erklärungen menschlichen Verhaltens, die auf einer Beschreibungsebene deutlich unterhalb der intentionalen Ebene angesiedelt sind.8 Wie Helen Steward, eine Verteidigerin des freien Willens, die diese Herausforderung anerkennt, feststellt, sehen wir uns mit einer „zunehmend großen Menge von empirischen Belegen“ konfrontiert, „welche die Erklärung eines immer größer werdenden Anteils der Dinge, die menschliche Akteure tun, auf subpersonale Phänomene wie etwa den Hormonspiegel oder neuronal basierte Veranlagungen zurückführen.“9 Die neuere Wissenschaft deutet beispielsweise darauf hin, dass „Dopamin impulsives Verhalten bestimmt“10, dass Gene unsere politische Orientierung beeinflussen, ob wir z. B. liberal oder konservativ sind11, und dass die Risikobereitschaft bei Teenagern auf bestimmte Gehirnstrukturen zurückgeführt werden kann (nämlich auf „die größere Konnektivität zwischen der Amygdala […] und dem rechten Gyrus frontalis medius, dem linken Gyrus cinguli, dem linken Precuneus und dem rechten Lobulus parietalis inferior“12). Außerdem legt die moralpsychologische Forschung nahe, dass die Antwort auf die Frage, ob eine Person auf moralische Dilemmata auf eine eher kantische oder konsequenzialistische Weise reagiert, davon abhängt, in welchem Maße diese Dilemmata eine mit emotionalem Engagement verknüpfte Gehirntätigkeit auslösen.13 Zu welchen moralischen Schlussfolgerungen eine Person gelangt, könnte also tatsächlich in sehr viel stärkerem Maße auf subintentionale Gehirnvorgänge zurückzuführen sein als auf höherstufige kognitive Prozesse. Und die Verhaltensökonomie weist darauf hin, dass ein Gutteil menschlicher Entscheidungsfindung instinktiv, unbewusst und „schnell“ abläuft, im Gegensatz zu den „langsamen“, bewussten und abwägenden Überlegungsprozessen, um die Terminologie des Psychologen Daniel Kahneman zu gebrauchen, der zwischen „schnellen“ und „langsamen“ Denkweisen unterscheidet.14

      Wenn diese Entwicklungen für die Zukunft der Verhaltens- und Sozialwissenschaften repräsentativ sind, könnte die Alltagspsychologie durchaus demselben Schicksal entgegengehen wie andere „Alltagstheorien“, z. B. die der Physik, Biologie und Medizin, jene informellen, vorwissenschaftlichen Glaubenssysteme, welche die Menschen in ihrer alltäglichen Auseinandersetzung mit physikalischen, biologischen und medizinischen Fragen gewohnheitsmäßig entwickelten.15 Diese Alltagstheorien waren alle bis zu einem gewissen Punkt nützlich, sie wurden aber schließlich durch ganz andere und wissenschaftlichere Nachfolgetheorien ersetzt. Von den Begriffen der ursprünglichen Alltagstheorien auf diesen anderen Gebieten – sei es in der Physik, der Biologie oder der Medizin – blieben nur wenige erhalten, sobald wir ein besseres Verständnis der wahren Struktur der Wirklichkeit hatten. Und die Common-Sense-Psychologie mit ihrem zentralen Begriff des intentionalen Handelns könnte durchaus eine weitere Alltagstheorie sein, die vor dem Aus steht.

      Nun könnte man sagen, diese Art von radikalem Materialismus sei zu extrem. Eine vernünftigere These wäre, dass die Common-Sense-Psychologie nicht in einem strikten Sinne falsch sei, sondern nur keine hinreichend fundamentalen Erklärungen der vorliegenden Phänomene liefere, und dass die Verhaltenserklärungen in der Begrifflichkeit intentionalen Handelns sich letztlich als überflüssig erweisen werden. Diesem Bilde zufolge wird die Common-Sense-Psychologie auf etwas Grundlegenderes reduziert werden, wobei sich wiederum die Neurowissenschaft als die naheliegende Kandidatin anbietet. Es mag also nicht im engeren Sinne falsch sein, Personen Überzeugungen, Wünsche und Absichten zuzuschreiben, es handelt sich bei diesen Zuschreibungen jedoch nur um abgekürzte Beschreibungen für grundlegendere neurophysiologische Eigenschaften der zugrundeliegenden Gehirne und Körper.

      Nach dieser weniger extremen Form des Materialismus, den die Philosophen „reduktiven Materialismus“ nennen, im Gegensatz zum „eliminativen Materialismus“, ist der springende Punkt nicht, dass das Phänomen des intentionalen СКАЧАТЬ