Wie um solchen Gedanken zu wehren, streicht er sich flüchtig über die Stirn und sagt rasch: »Ich kenne einen prächtigen Lehrer in Luzern, einen alten Musikprofessor. Wenn du bei ihm in die Lehre gehst, Sabrina, wirst du eines Tages vielleicht die Vollkommenheit deines Vaters erreichen können.« Rasch beugt er sich wieder über das leichte Jagdgewehr, das er in den Händen hält. »Ich werde ihm sofort schreiben, und wie ich meinen Walter Braman kenne, wird er hocherfreut sein, wenn ich ihm eine begabte Schülerin empfehle. Wenn er dir also recht ist, Sabrina, und wenn du mit meinem Vorschlag einverstanden bist, werde ich mich noch heute mit ihm in Verbindung setzen.«
»Ich bitte dich darum, Wolfhart«, sagt Sabrina leise. »Ich werde dir dankbar sein.«
Fürst Wolfhart nickt nachdenklich. Er legt das Jagdgewehr auf den Tisch zurück und greift zu einem schweren Hirschfänger. Dabei scheint er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
Erschrocken richtet Sabrina sich auf, als Wolfhart in diesem Augenblick einen leisen Schmerzenslaut ausstößt.
»Was ist, Wolfhart?«, fragt sie bestürzt.
»Wie ungeschickt von mir«, murmelt er zornig. »Ich habe mich an der rechten Hand verletzt.«
Sabrina nimmt seine Rechte behutsam in ihre beiden Hände. Vom Daumenansatz zieht sich ein breiter, klaffender Schnitt bis zur Handwurzel hin.
»Um Gottes willen, deine Hand, Wolfhart!«, flüstert sie bebend. »Wie konnte das nur geschehen?«
Fürst Wolfhart gibt keine Antwort. Er zuckt nur stumm mit den Schultern und deutet auf den Hirschfänger, dessen Schneide tief in seine Hand gedrungen ist.
Die Wunde blutet heftig. Ängstlich blickt Sabrina zu Fürst Wolfhart empor, denn sie weiß, dass die Hände das kostbarste Gut des großen Dirigenten sind.
»Sei so lieb, Sabrina, und rufe Fräulein Tabea«, bittet Fürst Wolfhart und drückt sein Taschentuch auf die Wunde, das schnell von Blut durchtränkt ist. »Sie soll Verbandszeug mitbringen.«
Während Sabrina aus der Halle eilt, versucht Fürst Wolfhart, seine Hand zu bewegen. Aber diese schmerzt so sehr, dass er den Versuch gleich wieder aufgibt.
Und dann ist Fräulein Tabea zur Stelle.
»Mein Gott, wie konnte das nur geschehen?«, jammert sie, und als sie die Wunde sieht, entscheidet sie sofort: »Der Arzt soll kommen! Sönke soll sich gleich auf den Weg machen!«
»Unsinn!«, wehrt Fürst Wolfhart ab. »Wegen einer Schramme ruft man keinen Arzt!«
»Das ist mehr als eine Schramme, Durchlaucht!«, erwidert Fräulein Tabea und wirft einen grimmigen Blick auf den Hirschfänger. »Es könnte ja eine Sehne verletzt sein, und schon deshalb müssen wir den Arzt rufen!«
»Bitte, Wolfhart!«, schaltet sich auch Sabrina ein. »Tante Tabea hat recht! Es wäre schrecklich, wenn du durch einen solch dummen Zufall ernstliche Schwierigkeiten hättest.«
Da erhebt Fürst Wolfhart keinen Widerspruch mehr. Nur als Sabrina die Halle verlässt, um Sönke zum Arzt zu schicken, murrt er: »Einfach lächerlich, ein solches Theater um diesen unbedeutenden Schnitt zu machen!«
Fräulein Tabea achtet jedoch nicht auf seine Worte, sondern verbindet seine Hand ruhig weiter.
»Es wird höchste Zeit, dass wir endlich ein Telefon auf Schloss Ravenhill bekommen«, bemerkt sie schließlich. »Man ist im Ernstfall ja völlig von der Welt abgeschnitten. Ehe vor sechs Jahren die Leitung für Strom zu uns gelegt wurde, hausten wir ja zudem noch in ägyptischer Finsternis. Aber das Telefon ist wirklich eine dringende Notwendigkeit, gnädiger Herr, sonst ist man verkauft, verraten und verloren in diesem unheimlichen Gespensterschloss.«
»Gespensterschloss?«, fragt Fürst Wolfhart missbilligend und mit zusammengezogenen Brauen. »Ich glaube, liebes Fräulein Tabea, Sie scherzen.«
»Ich scherze nicht! Es ist nicht geheuer im Schloss. Früher habe ich ja nie etwas bemerkt, aber jetzt spukt es tatsächlich.« Sie dämpft ihre Stimme etwas, als fürchte sie sich, die unheimlichen Gespenster aufzuwecken. »In der bewussten Nacht von Freitag auf Samstag wird es immer unruhig im Falkenverschlag. Nicht nur ich habe es bemerkt, auch Sönke und die anderen. Wir haben einmal dort nachgesehen, aber wir konnten bei Tageslicht nichts entdecken. Alles stand an seinem Platz, die Kette der Falkenstange hing ruhig herab, und die Bretterwand, die zum Freigehege führt, war lückenlos vernagelt. Drei Nächte lang hielt Sönke damals im Verschlag Wache, doch es blieb alles ruhig. Aber in der Nacht des darauffolgenden Freitags begann es wieder. Es war schaurig! Die Kette rasselte, ein Krächzen ertönte, und dann klang es so, als wenn ein gefesselter Falke mit seinen Schwingen schlage und …
»Unsinn!«, unterbricht Fürst Wolfhart sie. »Es wird der Wind gewesen sein.«
»Das sagt Sönke auch«, gesteht Fräulein Tabea. »Aber merkwürdig ist doch, dass der Wind nicht weht, sobald Sönke in dem Verschlag schläft. Seither jedenfalls«, schließt sie ihren Bericht, »schläft Sönke vorsichtshalber jeden Freitag im Falkenverschlag, denn es wäre nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Leute erführen, dass es im Schloss tatsächlich spukt!«
»Und seit Sönke im Verschlag schläft, ist alles ruhig?«
»Nein!«, antwortet Fräulein Tabea mit noch immer gedämpfter Stimme. »Dann rumort es im rechten Schlossturm, genau dort, wo früher immer der Falke saß.«
Fürst Wolfhart schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Gespenster«, sagt er schroff.
»Aber es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir Menschen uns nichts träumen lassen!«, widerspricht Tabea.
»Möglich«, gibt Fürst Wolfhart zu. »Warum haben Sie mir übrigens nie etwas von diesen – diesen Gespenstergeschichten mitgeteilt?«
»Ich wollte Sie nicht erschrecken, Durchlaucht«, erwidert sie. »Außerdem hätte ich damit wohl nichts daran geändert. Aber nachdem Sie nun einmal hier sind und …« In diesem Augenblick kommt Sabrina zurück, und Fräulein Tabea schweigt.
Als eine knappe Viertelstunde später der Arzt eintrifft und den Verband von Fürst Wolfharts Hand nimmt, ist die Wunde blaurot verfärbt und dick angeschwollen.
»Hinaus mit Ihnen, meine Damen!«, befiehlt der Arzt, dessen rotwangiges Gesicht unter dem weißen Haar eitel Wohlwollen und Zuversicht ausstrahlt. »Das hier ist eine Sache, die ausschließlich Männer angeht.« Er wartet, bis Sabrina und Fräulein Tabea sich widerstrebend zurückgezogen haben, dann wird sein heiteres Gesicht sehr ernst. »Das ist eine schmerzhafte Angelegenheit, Durchlaucht!«, sagt er unumwunden. »Sie haben Glück, wenn Sie an einer Blutvergiftung vorbeikommen. Ich werde mein Möglichstes tun. Ruhe und absolute Schonung, Durchlaucht, sind aber unerlässlich. Dabei müssen Sie möglichst jede Bewegung vermeiden, denn …«
»Ich reise in einigen Tagen ab und muss meinen Wagen chauffieren!«, unterbricht ihn Fürst Wolfhart gereizt. »Sehen Sie zu, dass bis dahin alles wieder in Ordnung ist!«
Der alte Arzt zieht es vor zu schweigen, aber bei sich denkt er, dass Fürst Wolfhart Glück hat, wenn er seinen Wagen vielleicht in drei Monaten wieder chauffieren kann.
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