Название: Gedichte der deutschen Romantik
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Literatur (Leinen)
isbn: 9783843804073
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Wirkmächtig sind bei der Abgrenzung gegenüber der Klassik sowohl die Verklärung des Mittelalters als Projektionsfläche für die „gute alte Zeit“ als auch die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins, das als Antwort auf die Kriege und Herrschaft Napoleons in zahlreichen patriotischen Gedichten Niederschlag gefunden hat. Die Lyrik der Romantik speist sich aus einem vielfach als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Kontext. „Nirgend kann ich hier auf Erden / Jemals wieder glücklich werden“, so Novalis in seinem berühmten Gedicht Weinen muß ich, immer weinen (Vgl. S. 97 in diesem Band).
Bezieht man diese Aussage auf den historisch-politischen Kontext, dann liegt die Annahme nahe, dass der Lyrik der deutschen Romantik gerade auch dort politische und kulturtragende Bedeutung zuwächst, wo uns ihre spezifische Form der Bewältigung von Wirklichkeit auf den ersten Blick als Weltflucht erscheint.
Ausdrücklich hinzuweisen ist deshalb auf das augenfällige, als solches jedoch bisher viel zu wenig zur Kenntnis genommene Paradoxon, dass sich nicht wenige Gedichte der Romantik der landläufigen Vorstellung geradezu widersetzen, die wir uns von ihnen zu machen pflegen. Um es pointiert zu sagen: Gedichte der Romantik sind nicht immer romantisch, jedenfalls nicht nach heutigem Wortverständnis. Dieser scheinbare Widerspruch besitzt durchaus ein Irritationspotenzial, das sich jedoch leicht auflösen lässt. Das Selbst- und Weltverständnis der Romantiker – die sich selbst übrigens nicht so bezeichneten – hebt sich von den eher reizvoll-trivialen Assoziationen ab, die mit dem Stichwort „Romantik“ heutzutage verbunden werden.
Doch so unbestritten es ist, dass sich viele Gedichte der Romantik durch ein Höchstmaß an sprachlicher Kunst und einen musikalischen Rhythmus auszeichnen, die das poetische Rauschen der Wälder, das Funkeln der Sterne, das leise Fließen der Bäche und den nächtlichen Mondschein in einem außergewöhnlich schöpferischen Raum in Einklang bringen, so gewiss ist allerdings auch: Die Lyrik der Romantik evoziert gerade auch mit Hilfe solcher eingängigen Bilder, in der klaren Formgebung und im einfachen Volksliedton ebenso häufig eine scheinbare Schlichtheit, die mitunter ihre geheimnisvollen Abgründe, insbesondere das Unbehagen ihrer Autoren an der Gegenwart und damit ihren tieferen Sinn oder ihre besondere Brisanz vollständig zu verschleiern vermag.
Mit Recht weist Stefan Scherer darauf hin, dass der Eindruck von Einfachheit romantischer Gedichte künstlerisch erzeugt und daher gewollt ist. Treffend bezeichnet er diese artifizielle Einfachheit, die sich als Gestaltungsprinzip vorzugsweise an der Form und Sprache der romantischen Poesie beobachten lässt, als „künstliche Naivität“5. Charakteristisch für dieses ästhetische Verfahren ist, dass es Traum und Wirklichkeit, Kunst und Leben ineinander fließen lässt und sich dadurch vielfach dem Zugriff eingeschliffener oder vorgefertigter Lesarten entzieht.
Die Lyrik der Romantik lässt sich nicht pauschal bestimmen, aber sie strukturiert tendenziell ein gebrochenes Verhältnis der romantischen Dichter zu ihrer unmittelbaren gesellschaftlichen Gegenwart. Kompensiert wird die innere Abwendung der romantischen Dichter von den bürgerlichen Werten zum einen durch die Rückerinnerung an eine glückliche Vergangenheit und zum anderen durch das Streben nach einer poetischen Existenz, deren charakteristisches Merkmal die Ungewissheit ist. Zuhause fühlten sich die Romantiker nirgendwo. In ihren Liedern wird das Leid der Entfremdung häufig bereits durch eine melancholisch-dunkle Grundstimmung vermittelt. Dennoch bedarf es des genauen Hinhörens, um in die verborgenen Töne der romantischen Lyrik vordringen zu können.
Die Gedichte der Romantik sind meist reizvoll, oft schlicht verfasst, aber nirgends erschöpfen sie sich in frei schwebender Fantasie. Sie sind schlicht und schön, aber nicht in jedem Fall unschuldig. Das liegt zum Teil daran, dass sie immer schon jene rätselhafte Tiefe aufweisen, die zu einer stillen Reflexion über die dunklen „Lockungen der Welt“6 einlädt, denen der Mensch ausgesetzt ist. Damit strukturieren Gedichte der Romantik hinter der Maske der Naivität – allerdings in sehr unterschiedlicher Art und Weise – ein komplexes Wirklichkeitsmodell, das nicht nur, aber vor allem auch Heinrich Heine in exemplarischer Art und Weise aufgegriffen hat. Sein brillanter, bissig-ironischer und nicht selten parodistischer Umgang mit vertrauten romantischen Motiven bildet den Abgesang nicht nur auf die sentimentale Naturlyrik, sondern auf das poetische Programm der Romantik insgesamt.
Folgerichtig ist diese Anthologie darauf angelegt, Leserinnen und Lesern die Gedichte der Romantik als „Sternstunden“ der deutschen Lyrik ins Bewusstsein zu bringen. Schon recht nah kommt man dem Verständnis ihrer Eigenart, wenn man sich unvoreingenommen auf die romantischen Gedichte einlässt, die reich an poetischen Überraschungen sind. Eben in dieser Eigenschaft liegt ein wichtiges Merkmal der Originalität romantischer Ästhetik begründet. Heinrich von Ofterdingen, der Protagonist aus Novalis gleichnamigem Roman, spricht es deutlich aus: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt. Und was man glaubt, es sey geschehn, kann man von weitem erst kommen sehn“7.
Diese einmalige ästhetische Erfahrung lässt sich auch auf die Begegnung mit Gedichten der deutschen Romantik ausdehnen, insbesondere dann, wenn man sich bei ihrer Lektüre nicht auf die Oberfläche beschränkt. Doch was die Leserin oder der Leser dabei „erst von weitem kommen sehn“ mag, nimmt in jedem einzelnen Gedicht eine individuelle Gestalt an. Wohl deshalb kann man mit Hermann Hesse sagen: Jedem der hier versammelten Gedichte „wohnt ein Zauber inne“, und zwar als unendliches ästhetisches Sinnangebot, das es immer wieder neu einzulösen gilt.
Die hier vorgelegten Gedichte gehören, gemessen an ihrem Gehalt und ihrer künstlerischen Raffinesse, allesamt zu den großen dichterischen Leistungen der Romantik. Sie stehen nicht so sehr für das Typische, sondern vielmehr für das Wesentliche der romantischen Lyrik. Als Meisterwerke sind sie unverzichtbar für jeden, der die bis heute ungebrochene Attraktivität und Faszination deutscher Gedichte der Romantik neu oder wieder entdecken will. Dank ihrer überdauernden Strahlkraft ziehen die Gedichte der deutschen Romantik den Leser nach wie vor in ihren Bann und werden auch in der Zukunft einen bleibenden Stellenwert bewahren.
Herausgeber und Verlag wünschen eine ebenso anregende wie spannende Lektüre.
München, im Juli 2013
Y.M.
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1 Wolfgang Frühwald (Hrsg): Gedichte der Romantik. Stuttgart 1984, S. 35.
2 Oskar Seidlin: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965, S. 47.
3 Wolfgang Nehring: Spätromantiker. Eichendorff und E.T.A Hoffmann. Göttingen 1997, S. 76.
4 Goethe: Rezension von Achim von Arnim und Clemens Brentano Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. In: Jenaische allgemeine Literaturzeitung, Nr. 18-19, 21-22. Januar 1806, S. 282.
5 Stefan Scherer: Künstliche Naivität. Lyrik der Romantik. In: Der Deutschunterricht 3 (2005), S. 44-54.
6 Wolfgang Frühwald, a.a.O., S. 33.
7 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, Aus: Novalis Schriften. Herausgegeben von L. Tieck und Friedrich Schlegel. Wien 1827, S. 201
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