Unrast. Olga Tokarczuk
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Название: Unrast

Автор: Olga Tokarczuk

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311700449

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СКАЧАТЬ schon ein Polizist auf sie wartet, diesmal ist es ein anderer, jüngerer. Einen Augenblick lang hat Kunicki die Hoffnung, dass er gute Nachrichten hat, aber der Polizist fragt nur nach seinem Pass. Alle Angaben schreibt er ganz genau auf, sagt, dass sie jetzt auch auf dem Festland nach den beiden suchen werden, in Split. Und auf den benachbarten Inseln.

      »Vielleicht sind sie übergesetzt«, erklärt er.

      »Sie hatte kein Geld. No money. Alles ist hier drin.« Kunicki zeigt die Tasche und zieht ihr Portemonnaie heraus, es ist rot und mit kleinen Perlen bestickt. Er öffnet es und hält es dem Polizisten unter die Nase.

      Der zuckt mit den Schultern und notiert seine Adresse in Polen.

      »Wie alt ist das Kind?«

      »Drei«, sagt Kunicki.

      Sie fahren über eine Serpentinenstraße an dieselbe Stelle, der Tag verspricht heiß und klar zu werden, erleuchtet wie ein Dia. Am Mittag wird das Bild ganz daraus verschwinden. Kunicki denkt über die Möglichkeit nach, die Insel von oben zu betrachten, aus einem Hubschrauber, sie ist ja fast kahl. Er denkt auch an Erkennungschips, wie sie Vögeln eingesetzt werden, Kranichen und Störchen, aber für Menschen gibt es keine. Alle sollten so einen Chip haben, zu ihrer eigenen Sicherheit. Später könnte man dann alle ihre Bewegungen im Internet verfolgen: Strecken, Begegnungen, Verirrungen. Wie viele könnten vorm Tod gerettet werden! Er sieht einen Computerbildschirm vor sich, darauf bunte Linien, die Menschen bezeichnen, lauter Spuren, Zeichen. Kreise und Ellipsen, Labyrinthe. Vielleicht auch Endlosschleifen, vielleicht missratene Spiralen, die plötzlich abbrechen.

      Ein Hund ist da, ein schwarzer Schäferhund, sie halten ihm ihren Pullover vom Rücksitz vor die Nase. Der Hund schnüffelt um das Auto herum, dann schlägt er den Pfad zwischen den Olivenbäumen ein. Kunicki fühlt plötzlich, wie neue Energie in ihm erwacht, gleich wird sich alles aufklären. Sie laufen hinter dem Hund her. Der Schäferhund bleibt an einer Stelle stehen, offenbar haben sie hier ihre Notdurft verrichtet, obwohl man keine Spur davon sieht. Er bleibt stehen, mit sich zufrieden – aber wir sind noch nicht fertig, Hund! Wo sind die Leute, wohin sind sie gegangen? Der Hund versteht nicht, was sie von ihm wollen, aber nach kurzem Zögern bewegt er sich weiter, biegt seitlich ab, Richtung Straße, weg von den Weingärten.

      Dann ist sie an der Straße entlang gegangen, denkt Kunicki. Sie muss sich vertan haben. Sie mochte weiter unten an der Straße herausgekommen sein und auf ihn gewartet haben. Aber hatte sie die Hupe nicht gehört? Und dann? Vielleicht hatte jemand sie mitgenommen – doch wohin, da sie ja nicht aufzufinden waren? Jemand. Eine unscharfe, verschwommene breitschultrige Gestalt. Ein schwerer Nacken. Entführung. Hatte er sie geknebelt und in den Kofferraum verfrachtet? Dann hatte er sie mit der Fähre aufs Festland gebracht, und jetzt sind sie schon in Zagreb oder München oder werweißwo. Aber wie konnte er mit zwei bewusstlosen Menschen die Grenze überqueren?

      Nun biegt der Hund in eine leere Schlucht ein, die schräg von der Straße abgeht, eine lange steinige Rinne, die läuft er hinab, über das Geröll. Dort fängt ein schmaler, verwilderter alter Weingarten an, darin steht ein kleines, mit rostigem Wellblech gedecktes Steinhäuschen, das an einen Kiosk erinnert. Vor der Tür liegt ein Haufen vertrockneter Traubenpergel, wahrscheinlich zum Verbrennen. Der Hund läuft im Kreis um das Haus, kehrt dann zur Tür zurück. Doch die Tür ist mit einem Vorhängeschloss versperrt, sie schauen alle verdutzt. Der Wind hat Reisig auf die Schwelle geweht, man sieht, dass hier niemand hineingegangen ist. Der Polizist schaut durch die schmutzige Scheibe ins Innere und rüttelt dann an der Scheibe. Er rüttelt immer fester und fester, bis sie nachgibt. Alle schauen hinein, Modergeruch schlägt ihnen entgegen und der Geruch nach Meer, der allgegenwärtige.

      Die Walkie-Talkies rauschen, der Hund bekommt zu trinken, dann lässt man ihn wieder an dem Pullover schnüffeln. Jetzt macht er drei Runden um das Haus, kehrt zum Weg zurück, trabt nach kurzem Zögern auf dem Weg weiter, auf ein paar kahle Felsen zu, nur mit einzelnen Grasbüscheln bewachsen. Tief unten am Abhang sieht man das Meer. Dort bleiben alle Sucher stehen, das Gesicht dem Wasser zugewandt.

      Der Hund hat die Spur verloren, kehrt zurück, legt sich schließlich mitten auf den Pfad.

      »To je zato jer je po noci padala kisa«, sagt jemand auf Kroatisch, und Kunicki versteht genau, dass es um den Regen geht, der in der Nacht gefallen ist.

      Branko lädt ihn zu einem späten Mittagessen ein. Die Polizisten bleiben zurück, sie fahren nach Komiża. Sie reden kaum ein Wort. Kunicki kann sich denken, dass Branko nicht weiß, was er sagen soll, dazu noch in einer fremden Sprache, auf Englisch. Nun gut, er braucht nichts zu sagen. In einem Restaurant direkt am Meer bestellen sie gebratenen Fisch. Eigentlich ist es kein Restaurant, es ist die Küche von Brankos Bekannten. Hier sind alle seine Bekannten, sie sehen sich sogar ähnlich, ihre Gesichtszüge sind irgendwie schärfer, die Gesichter wie vom Wind gegerbt, ein Stamm der Seewölfe. Branko schenkt ihm Wein ein, redet ihm zu, er soll trinken. Er selbst leert sein Glas in einem Zug. Er lässt nicht zu, dass Kunicki bezahlt. Branko bekommt einen Anruf.

      Details of St. Petersburg (1850)

      »They manage to get a helicopter, an airplane. Police«, sagt Branko.

      Sie machen einen Plan: In Brankos Boot wollen sie die Küste der Insel abfahren. Kunicki ruft seine Eltern in Polen an, er hört die brüchige Stimme seines Vaters, sagt ihm, sie müssten noch drei Tage bleiben. Er sagt nicht die Wahrheit. Alles ist in Ordnung, sie müssen bloß noch etwas bleiben. Er ruft auch bei der Arbeit an, es gebe ein kleines Problem, er bittet um weitere drei Tage Urlaub. Er weiß nicht, warum er genau »drei Tage« sagt.

      Er erwartet Branko am Hafen. Branko trägt jetzt ein neues Hemd mit einer roten Muschel darauf, es ist frisch und sauber, offenbar hat er mehrere von der Sorte. Sein kleiner Kutter liegt zwischen anderen vertäuten Booten. In unbeholfenen hellblauen Lettern steht der Name auf der Bootswand: »Neptun«. Kunicki fällt ein, dass die Fähre, mit der sie angekommen waren, »Poseidon« hieß. Dieser Name taucht hier an so vielen Stellen auf: Bars, Läden und Boote heißen Poseidon. Oder Neptun. Diese beiden Namen wirft das Meer wie Muscheln aus. Wie haben sie sich wohl das Copyright bei dieser Gottheit gesichert? Und womit bezahlt?

      Sie setzen sich im Kutter zurecht. Eigentlich handelt es sich eher um ein Motorboot mit einer Kabine, die nachlässig aus Holzbrettern zusammengezimmert ist. Dort bewahrt Branko Wasserflaschen auf, leere und volle. In einigen Flaschen ist Wein aus seinem Weingarten, ein guter, starker Weißwein. Branko holt den Motor aus der Kabine und montiert ihn am Heck. Beim dritten Versuch springt er an, jetzt müssen sie sich schreiend verständigen. Der Lärm ist erst unerträglich, aber bald hat sich das Gehirn daran gewöhnt, so wie an dicke Winterkleidung, die den Körper von der Außenwelt abschottet. Nach und nach versinkt der Anblick der immer kleiner werdenden Bucht und des Hafens in dem Lärm. Kunicki erkennt das Haus, in dem sie gewohnt haben, sogar das Küchenfenster und die emporragende Agave, wie ein erstarrtes Feuerwerk, eine triumphale Ejakulation.

      Vor seinen Augen schnurrt alles zusammen und verschwimmt: Die Häuser werden zu einer ungleichmäßigen dunklen Linie, der Hafen zu einem chaotischen weißen Fleck mit den kreuz und quer ragenden Masten. Dafür wachsen hinter der Stadt Berge empor, nackte, graue Berge mit den grünen Tupfen der Weinstöcke. Sie wachsen, werden riesig. Im Inland, von der Straße aus, wirkte die Insel klein, jetzt sieht man ihre Wucht, ein zu einem monumentalen Kegel geformter Felsbrocken, eine aus dem Wasser gereckte Faust.

      Sie biegen nach links, kommen aus der Bucht aufs offene Meer hinaus, und von hier sieht die Küste der Insel steil und bedrohlich aus.

      Die weißen Kämme der an die Felsen brandenden Wellen und die Vögel, die das Auftauchen des Bootes in Unruhe versetzt hat, bringen Bewegung in das Bild. СКАЧАТЬ