Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel
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Название: Die Kinder von Teheran

Автор: Mikhal Dekel

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783806243185

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      Am 6. September 1939 – die Nazis waren noch nicht in Ostrów einmarschiert –, floh die Familie Teitel aus der Stadt. Sie luden, was sie greifen konnten, auf zwei Lastwagen der Marke Chevrolet und ließen zurück, was über acht Generationen aufgebaut worden war. Am 6. September 1939 endete die Kindheit von Hannan und Regina, endete ihre Existenz als Kinder. Stattdessen wurden sie zu kleinen Erwachsenen – zu den Personen, die ich schließlich als meinen Vater und meine Tante kennen sollte: ruhig, verantwortungsbewusst, intelligent, immer darauf bedacht, möglichst wenig Raum einzunehmen, als wenn sie noch immer in einen überladenen Lastwagen gezwängt wären.

      Vom Moment ihres überstürzten Abschieds an waren sie Migranten, Wandernde, winzige Tröpfchen in jener Flüchtlingsflut, die zu Fuß, in Kutschen und auf Karren, mit Autos und Lastwagen über die Landstraßen Polens strömte und immer weiter anschwoll. Der 6. September 1939 war der erste von 1277 Tagen, die Hannan und Regina als Flüchtlinge verleben sollten; für ihre Eltern wurden es schließlich fast 5000.

      Polen war eine Wunde für meinen Vater, meine Tante und auch für mich, eine ererbte Wunde. Dass „die Polen genauso schlimm wie die Deutschen“ waren, hatte ich verinnerlicht, ohne dass man es mir jemals hätte ausdrücklich sagen müssen. Aber nicht alle, mit denen ich darüber sprach, teilten meine Beklemmung, wenn sie an Polen dachten. Stanley Diamond etwa, ein kanadischer Rechtsanwalt und Gründer von „Ostrów Mazowiecka Research Family“, dem Verein, dem ich die Bevölkerungsstatistik von Ostrów und den Stammbaum meines Vaters verdanke, sagte mir, seine Erfahrungen bei der Recherche im Gemeindearchiv von Ostrów sei „wunderbar“ gewesen. Und Ilana Karniel, das einstige Flüchtlingsmädchen, die mir das Tagebuch ihres Bruders Emil überlassen hatte, meinte, dass für sie kein Tag vergehe, an dem sie nicht ihre polnische Kindheit vermisse. Miryam Sharon, ebenfalls ein früherer Flüchtling mit polnischen Wurzeln, sagte mir, dass sie bei einem kürzlichen Besuch in Polen „eine seltsame Vertrautheit“ empfunden habe: „Ich meinte, [die Polen] zu kennen, und fand, dass ich ihnen vergeben konnte, weil auch sie ja gelitten hatten, und dass ich die ganze Zeit dort geblieben war, dass ich die Straßen, in denen ich aufgewachsen war, eigentlich nie ganz hinter mir gelassen hatte, dass ich da einfach hingehörte. Ich fühlte mich überhaupt nicht fremd; vielmehr kam es mir vor, als wäre ich nach sechzig Jahren endlich nach Hause gekommen.“7

      Meine Tante, eine im Allgemeinen sanftmütige, vernünftige Person, ließ sich davon nicht beeindrucken. „Die polnischen Brauereiarbeiter haben gejubelt, als wir Ostrów verlassen haben“, sagte sie. „‚Jetzt gehört der browar uns!‘, haben sie gerufen.“ 1992, ein Jahr nachdem die sozialistische Volksrepublik Polen ihren Übergang zur demokratischen Dritten Republik vollzogen hatte, reisten sie und Hannan mit ihren jeweiligen Ehepartnern nach Polen. In Ostrów beschafften sie sich Kopien ihrer Geburtsurkunden, versuchten – allerdings ohne Erfolg – etwas über mögliche Entschädigungen für den verlorenen Familienbesitz herauszufinden und reisten schließlich deprimiert wieder ab. Im Jahr darauf starb mein Vater, der auf dem Sterbebett noch Polnisch gesprochen hatte.

      Im Jahr 2011 reiste ich zum ersten – und damals dachte ich noch: auch zum letzten – Mal in meinem Leben nach Polen. Ich hatte vor, nach Siemiatycze zu fahren, wo die Familie meines Vaters auf ihrer Flucht kurzzeitig Schutz gesucht hatte. Und auf dem Weg dorthin wollte ich auf einen Sprung in Ostrów Mazowiecka vorbeischauen. In meiner Vorstellung gehörte Polen zur Vorkriegsvergangenheit meines Vaters – und war damit, was mich betraf, größtenteils irrelevant, denn ich wollte ja die Geschichte seiner Flucht erzählen. Sobald ich jedoch in Warschau eingetroffen war, wurde mir bewusst, dass die Geschichte meines Vaters – einschließlich der Geschichte seiner Flucht durch Zentralasien und in den Iran – ein noch immer lebendiger Teil der polnischen Gegenwart war. Mein Hotel in Warschau, ein Haus der Kette Ibis, lag an einem breiten Boulevard, der nach dem General Władysław Anders benannt war – just dem Oberkommandierenden der polnischen Exilarmee, mit dem Hannan und Regina bis in den fernen Iran gezogen waren. Gleich vor dem Ibis-Hotel, dort, wo sich einmal das jüdische Ghetto der Stadt befunden hatte, stieß ich auf das „Denkmal für die Gefallenen und Ermordeten im Osten“, das der Bildhauer Maksymilian Biskupski geschaffen hat: Ein überdimensionierter Eisenbahnwaggon aus Bronze trägt Hunderte von Kreuzen, die für all jene Polinnen und Polen stehen, die im Zweiten Weltkrieg nach ihrer Flucht in die Sowjetunion zu Tode gekommen sind. Und inmitten der vielen großen Kreuze gibt es auch einen winzigen Grabstein mit Davidstern, der jene polnischen Juden repräsentieren soll, die doch in Wirklichkeit mindestens die Hälfte der damaligen Flüchtlinge ausmachten. Mein Vater war einer von ihnen.

      Dass Polen von einem spannungsreichen Netz aus Museen und Gedenkstätten überzogen war, die jeweils einen jüdisch-polnischen Doppelsinn besaßen, war schon deutlich gewesen, bevor 2015 der Regierungsantritt der rechtskonservativen und revisionistischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die damit verbundenen Konflikte ans Tageslicht brachte. Ja, es gab sogar einen gedruckten Reiseführer, Festung Warschau von Elzbieta Janicka, in dem Schauplätze der jüdischen Geschichte Warschaus vorgestellt wurden, die von den zahlreichen Gedenkstätten des polnischen Opferkultes überlagert worden waren. In manchen Fällen – wie etwa bei dem „Denkmal für die Gefallenen und Ermordeten im Osten“ – stimmten ganz einfach die Proportionen nicht. In Ostrów Mazowiecka dagegen herrschte, wie ich bald selbst herausfinden sollte, finsterste Vergessenheit.

      Und doch erwies sich Polen, jenes mythische „Land vor unserer Zeit“, aus dem mein Vater einst gekommen war, als überraschend schön und freundlich. Salar, der sich um dieselbe Zeit auf der Rückreise von Teheran nach New York befand, schlug vor, in Warschau Halt zu machen und sich mit mir zu treffen. Anschließend sollte ein polnischer Fremdenführer namens Krzysztof Malczewski mit uns zusammen nach Ostrów Mazowiecka fahren. In meiner Vorstellung war Ostrów düster-schwarz, braun oder grau, jedenfalls trostlos und öde, eine heruntergekommene Stadt ohne Eigenschaften mitten im postkommunistischen Nirgendwo. Als wir dann jedoch an einem heiter-frischen Juninachmittag entlang des Flusses Bug von Warschau kommend nach Ostrów hineinfuhren, entpuppte sich die Stadt als grün und üppig und wie gemacht für das süße Nichtstun. Inmitten eines nicht allzu dichten Stroms von Autos aus den Siebzigerjahren glitten wir an vereinzelten Verkaufsbuden, Ladengeschäften und sattem grünen Gras vorbei, das ungezügelt über die Leitplanken der Schnellstraße wucherte.

      Unterwegs erzählte uns der freundliche Krzysztof („nennt mich einfach Kris“), dass er sein Geld unter anderem mit dem Import von Bewässerungssystemen aus Israel verdiente: „Die Bauern sind Antisemiten und wollen eigentlich keine Maschinen aus Israel, aber alle anderen Systeme geben schnell den Geist auf, und da haben sie keine Wahl.“ Während des Krieges hatte seine katholische Mutter seinen jüdischen Vater versteckt gehalten, wie er uns bei einer Rast erzählte. Er hatte darauf bestanden, anzuhalten, um an einer kleinen Tankstelle Piroggen und gołąbki (Kohlrouladen) zu essen. Sie waren wirklich köstlich.

      Im Jahr 1900 sorgte ein ganz alltäglicher Badeausflug zum Fluss Grzybowka dafür, dass Pesja, die älteste Schwester meines Großvaters Zindel, sich eine schwere Krankheit zuzog und rasch daran starb. Zwei Jahre darauf schlug ein Blitz in die Brauerei Teitel ein, die daraufhin vollkommen niederbrannte. Aber irgendwie konnten die Teitels sich trotzdem durchschlagen und hatten bisweilen sogar einigen Erfolg. Pesja wurde im Grab der Familie auf dem jüdischen Friedhof von Ostrów zur letzten Ruhe gebettet, in nächster Nähe ihrer zahlreichen Vorfahren, die ebenfalls dort ruhten. Die Brauerei wurde erheblich größer wieder aufgebaut, und der neue Trockenturm bekam den bereits erwähnten Blitzableiter. Im Ersten Weltkrieg wurde Ostrów – eine Stadt im Herzen der „Bloodlands“, wie der Historiker Timothy Snyder jene Gegend zwischen Zentralpolen und dem westlichen Russland genannt hat, wo der russisch-deutsche Kampf um die Vorherrschaft am blutigsten ausgefochten wurde – zuerst von den Russen, dann von den Deutschen besetzt. Die Deutschen beschlagnahmten sämtliche Nahrungsmittel, aber auch Türknäufe aus Messing und Kupferbratpfannen, Petroleum, Gerste aus der Teitel’schen Brauerei – und schließlich auch die Brauerei selbst. Also zog die Familie innerhalb der Stadt in ein anderes Haus um, das der Familie von Hannans Großmutter gehörte.

      Als Ostrów schließlich СКАЧАТЬ