Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke
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Название: Die Kunst der Bestimmung

Автор: Christine Wunnicke

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783863003111

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СКАЧАТЬ daheim im Pfarrhaus zu Söderfors, das Buch zum Lateinlernen, das Buch über Gottes Welt. Er hörte den Mannesälv rauschen, gleich hinter der Wohnstube, den Fluss, in dem Simon nicht baden durfte, weil sich das nicht schickte für den künftigen Pfarrer von Söderfors. Simon hatte den Orbis Pictus bunt gemalt für seine jüngeren Brüder. Sie saßen bei ihm. Er las ihnen vor. Venatus die Jagd. Praestigia die Gaukelei. Temperantia die Begnügsamkeit. Supplicia Maleficorum der Übeltäter Leibesstrafen. Dann gingen die Brüder fort, nach draußen zum Fluss, um zu baden, denn es war Sommer und man brauchte nur einen Pfarrer in Söderfors. Simon saß allein mit dem Orbis Pictus, dem Buch über Gottes Welt, und er kolorierte es mit Pflaumensaft, mit geraspelter Rinde in Eiklar, mit Messwein und Grasbrei und Blut. Er las Terra die Erde und Lapis der Stein, Flores, Fruges, Frutices, die Binsen, das knotige Schilfrohr, die Holderstaude, der Rosenstock, und draußen floss der Mannesälv mit den Kindern, und Simon las und malte, Geometria die Erdmesskunst, Phases Lunae des Monds Gestalten, und er malte die Weltweisheit blau, und er malte die Fischerei grün, und er malte Aves Rapaces die Raubvögel blutbraun, und mit schwarzer Tinte füllte er die Umrisse der Amphibia, der beidlebigen Tiere, das Krokodil, den gänsfüßigen Biber, den Otter, den quakenden Frosch mit der Kröte, und Sartor der Schneider, und Lintea das Linnen, und die Luft und die Wolke, Getreide und Bäume, Herdenvieh und Lastvieh, Uhrwerke und Fuhrwerke, und Coelum der Himmel und Mundus die Welt. Der Messwein war verschüttet. Der Pflaumensaft aufgebraucht. Die Rinde in Eiklar klumpte, das Blut war geronnen, das Gras auf der Wiese längst braun. Schwarz malte Simon Chrysander den ganzen Orbis Pictus. Der Mannesälv rauschte. Gott der Herr schritt am Ufer und zuckte die Achseln und Gott der Herr sah den Orbis Pictus und zuckte die Achseln, er schalt nicht, sprach nicht, segnete nicht, und er sah nicht, dass es gut war, und er sah nicht, dass es schlecht war, und er sah auch Simon Chrysander nicht über seinem schwarz gemalten Orbis Pictus, und Gott der Herr ging weiter, fort vom Pfarrhaus, fort vom Mannesälv, fort aus Söderfors, fort aus Dalarna, fort aus Schweden und fort aus Mundus, der Welt, und seine Achseln zuckten unaufhörlich, und seine Engel waren um ihn her wie auf den Bildern.

      Chrysander schlug die Augen auf. Die Straße war still. Über ihm, mit einem Licht, stand Kauppi.

      «Ich will nicht, dass du mir nachkommst», sagte Chrysander. Kauppi half ihm auf die Beine. Chrysander schluckte. Dann übergab er sich. Dann brachte ihn Kauppi nach Hause.

      III

      «IN GUARDIA!», schrie Vater und band Lucius’ Klinge innerhalb.

      Das Gras war grün in Cheshire und der Himmel hing niedrig. Man übte auf dem Feld und nicht im Haus. Auch der Krieg fand im Feld statt und nicht in Häusern. Wenn es regnete, blieb man. Auch der Krieg blieb Krieg, wenn es regnete. Lucius wagte einen schnellen Blick zum Himmel.

      «Cavation! Via!», schrie Vater.

      Lucius cavierte, Vater cavierte desgleichen, Lucius ging abermals mit der Klinge durch und Vater wiederum, und Lucius cavierte ein fünftes Mal und machte dann die Finte in der Quarta nach Vaters rechter Brust, und Vater ging nach links, und Lucius passierte unter Vaters Rapier und stieß in der Seconda nach Vaters unterem Leib, und Vater griff seine Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Und Lucius cavierte wieder, und Vater cavierte dagegen, und Lucius ging durch und Vater ging wiederum durch, und nach der fünften Cavation und der Quarta nach rechts machte Lucius abermals die Passata sotto, die linke Hand im nassen Gras, und schnell wieder hoch, damit Vater nicht spottet, und dann die Seconda abermals nach der unteren Linie, und wieder griff Vater die Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Die ersten Regentropfen fielen.

      «Schlafen Sie, Sir?», schrie Vater. «Via!»

      Und Lucius cavierte und Vater ging durch und Lucius ging wiederum durch und dann abermals Vater, und im Haus waren die Schwestern, Maudlin und Barbara, sie hatten Lucius im Türstock gemessen, in nur einem Monat war er gewachsen um die Breite von Maudlins Kamm, sie lachten ihn aus, und Lucius machte die Finte nach rechts und Vater ging nach links und schon fiel mehr Regen, und Lucius bückte sich unter Vaters Klinge, zum dreißigsten Mal, zum vierzigsten Mal, und da war längst ein Abdruck seiner linken Hand im Gras, denn man wich nicht und wirbelte nicht und schlenkerte nicht, sondern hielt die Bahn und hielt die Mensur, sonst war man ein Feigling, und Lucius stieß in der Seconda zu, und Vater griff seine Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Lucius cavierte, und Vater, und Lucius, und Vater wieder, und dann die Quarta, Lucy, sagten die Schwestern, Lucy lernt die Passata seit Wochen, nichts als die Passata, gewiss ist er dumm, denn Vater drillt ihn wie einen Hund, und bald passt er nicht mehr unter Vaters Degen durch, bald ist er ein Riese und kommt auf den Jahrmarkt. Lucy, unser Lucy, die großen Schwestern nannten ihn so, wenn Vater es nicht hörte, und die Mutter hatte ihn so genannt, denn sie zog Töchter vor, denn Töchter lebten, Söhne kamen meist tot zur Welt, Töchter waren besser. Lucy, sagte die Mutter zu ihrem Sohn und dann starb sie selbst, und Lucius nannte sich selbst Lucy, wenn keiner es hörte, denn Mädchen müssen nicht fechten und Mädchen wachsen nicht so. Lucy, dachte Lucius, blamier dich nicht, und Vater ging nach links, und Lucius machte die Passata sotto und ging in die Seconda, glatt und geschmeidig wie Vater, und Vater griff seine Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Der Regen fiel stärker und Lucius cavierte, und Vater cavierte, und Lucius ging wieder durch, und Vater ging wieder durch, und der Regen wurde dunkel und das Gras immer grüner, ein tiefer See, und Lucy machte die Finte mit der Quarta, und er schwamm, ein Fisch mit Rapier, «via!», schrie Vater, und Lucy passierte unter Vaters Klinge davon auf Nimmerwiedersehen, eine Muschel, die versank, und ein Wasservogel, der davonflog, und Vater schrie «via!» und Lucy flog, und er wurde eine Spottdrossel und ein Papagei und ein gefiederter Drache und eine rote Taube, und Vater machte die Primeinladung und stieß mit der Quarta zu und stieß wiederum mit der Quarta zu und fluchte, denn er stieß ins Leere, denn Lucy war ein Vogel, und er stieß abermals ins Leere, denn Lucy war ein Fisch, und dann wurde er eine Wolke und dann wurde er Wasser und dann wurde er Luft, und Vater stieß zu, und Lucy wandelte sich, glatt und geschmeidig wie lauter vollendete Kreisfinten, vom Fisch zur Muschel zum Vogel zum Wasser zur Wolke, wie Proteus, der Meergott, der die Gestalten wechselt wie das Kleid, den keiner zu halten vermag, denn seit Lucius Lawes so schrecklich gewachsen war, wollte er werden wie Proteus und längst nicht mehr werden wie Vater.

      Lucius erwachte. Er fror. Das Bettzeug war klamm. Er schloss die Augen und versuchte zu verschwinden. Er versuchte das öfters. Gelungen war es ihm noch nie. Statt zu verschwinden, stahl sich der Earl of Fearnall leise aus Bett und Zimmer.

      Er hatte nichts an. Er fand ein Hemd in seinem Ankleidezimmer, keine Hose, keinen Morgenmantel, nur zwei Strümpfe. Irgendwo gedämpfte Stimmen, Personal vielleicht, oder die Orangenfrau, oder der Mann mit den Spitzen, der jeden Morgen kam, oder sogar Besuch – Lucius rannte nackt von Zimmer zu Zimmer, bog ab, bog wieder ab, fort von den Stimmen, ihn schwindelte, er stolperte über die Schwelle einer Kammer, schlug die Tür zu und kauerte sich in eine Ecke. Hier verwahrte er sein Schwarzpulver. Hierher folgte ihm niemand ohne Befehl. Lucius steckte den Kopf in die zerknitterte Wäsche, die er unterwegs gefunden hatte, kniff die Augen zu und versuchte wieder einzuschlafen.

      «In guardia!», schrie Vater. «Quartflankonade und Kreisstoß! Via!»

      Lucius entschied sich gegen den Schlaf. Er versuchte sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Lucius hatte viel getrunken, mehr als einen verschwommenen Kummer bekam er nicht СКАЧАТЬ