KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
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Название: KLEINER DRACHE

Автор: Norbert Stöbe

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783957658760

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СКАЧАТЬ getäuscht.«

      »Aber wie denn getäuscht? Dann müsste er ja so aussehen wie ich.«

      »Und wenn er das tut?«

      »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

      »Ich mir auch nicht.« Kung stellte die Wasserflasche ab, seine Finger zuckten. Gierig starrte er den Noser an, der zwischen zerknautschten PB-Tüten und einer aufgeklappten Plastbox mit Speicherelementen lag, die wie metallisierte Käfer aussahen.

      »Trotzdem«, sagte er. »Jemand hätte dich erkennen müssen. Die Angestellten waren im Geschäft. Sie hätten wissen müssen, dass du nicht in deinem Büro warst.«

      »Der Polizist hat mit Sammo gesprochen, und dann wollten sie mich festnehmen.« Xialong sah ihn flehentlich an, dabei kannte sie ihn gar nicht. Dieser hagere, nervöse Bursche mit der bleichen, fadenscheinigen, welken Haut war ihr fremd und unheimlich, und trotzdem hatte sie das Gefühl, er sei der Einzige, der ihr helfen konnte. Offenbar war ihre Lage verzweifelter, als sie sich eingestehen mochte.

      »Trink einen Schluck«, sagte Kung, der vergessen hatte, ihr Tee anzubieten. Er schob ihr seine Wasserflasche hin. »Ich verschwinde mal eben nach nebenan. Wenn ich zurückkomme, gehen wir zu Onkel Wu, holen deine Sachen und das Com, und dann probiere ich, in deine Accounts reinzukommen. Wird schon klappen.« Er sprang auf, schnappte sich den Noser vom Tisch und verschwand in der Vielzwecknische. Er zog das Fläschchen mit dem Neeze aus der Tasche, klappte den Toilettendeckel hoch, ließ die Hose herunter und setzte sich auf die Schüssel. Der Noser sah aus wie eine Miniaturbrille mit runden, dicken Gläsern. Er klappte ihn auf und träufelte je fünf Tropfen auf die luftdurchlässigen Schwämme, dann steckte er die Flasche ein, klappte den Noser zu und drückte ihn in die Nasenlöcher.

      Und atmen – durch die Nase ein, durch den Mund aus.

      Ein … und aus.

      Ein … und … aus.

      Das inwendige Zittern hörte auf. Irgendetwas entspannte sich im Unterleib, er pinkelte in die Schüssel, ein glockenhelles Rieseln, ein anstrengungsloser Zeugungs- und Schöpferakt. Köstliche Ruhe breitete sich in ihm aus. Er war bei sich. Er war ganz. Und doch schwang in diesem großen, leeren Raum, der er war, eine Art Sehnsucht, ein zarter Wunsch mit: sich anzuvertrauen, seine stille Ekstase zu teilen. Er streckte die Hand zum Waschbecken aus, doch das HeadGear war nicht da, er hatte es nicht mitgenommen, als er – vor wie langer Zeit? – hierhergekommen war.

      »Kung?«

      »Ja?«, antwortete er automatisch.

      »Was machst du? Ich glaube, ich hab Angst.«

      Die Frau nebenan, er hatte ihr etwas versprochen.

      »Das brauchst du nicht«, sagte er. »Ich bin gleich fertig.« Er richtete sich auf, zog die Hose hoch, packte Neeze und Noser ein und spülte.

      »So!«, sagte er zu laut, zu energisch, als er wieder ins große Zimmer trat. Am liebsten hätte er sich auf die Schenkel geklopft und einen kleinen Egotanz hingelegt, ahnte aber, dass er Xialong damit noch mehr beunruhigt hätte. »Auf zu Onkel Wu!«

      Der Dschungel leuchtete. Diffuses grünliches Licht strahlte von den Fassaden der Glücklichen Familie aus. Sie schienen in einem Rhythmus zu atmen, der als Welle an den Gebäuden entlang floss, an der rechten Seite im Dunkel der Nacht verschwand und sich von links her erneuerte. Die Blattteppiche waren so dicht gestaffelt und die oberschenkeldicken Lianen so eng miteinander verwoben, dass man meinte, ins Innere eines hypertrophen Organismus zu blicken. Die Flaschenblüten mit ihrem roten Aufdruck glichen Symbionten, die sich über die Stängel von unsichtbaren Organen nährten.

      Vor dieser morbiden vegetabilen Pracht wirkte der graue Wagen am Straßenrand unwirklich, und die kleinen Gestalten der Zuschauer, die sich vor dem Eingang des dritten Turms der Glücklichen Familie versammelt hatten, erschienen wie Zwergengeister, die sich jeden Moment verflüchtigen mochten. Doch es verhielt sich genau umgekehrt: Der Wagen war wirklich, und die beiden Anzugträger, die einen alten Mann auf den Rücksitz stießen, waren es auch, desgleichen der dürre Typ mit dem Strohhut, der ein wenig abseits der Gaffer stand und ein paar Worte mit dem rauchenden Fahrer wechselte, bevor der sich hinter das Steuer setzte und mit den Anzügen und dem Alten davonfuhr.

      »Ich glaube, es ist schlimmer, als wir gedacht haben«, sagte Kung, dann bemerkte er, dass Xialong erstarrt war, ihr Gesicht eine verzerrte Fratze der Angst.

      »Na komm«, sagte er leise. »Lass uns hinsetzen.« Er geleitete sie durchs Tor in den Park und setzte sich mit ihr auf eine dunkle Bank unter einem Gingkobaum. In einem vergessenen Holzkäfig zirpte laut eine Zikade, und der kleine Menschenauflauf, der durchs Gesträuch und den Zaun undeutlich zu erkennen war, verlief sich allmählich. Außer ihnen hielt sich kein Mensch im Park auf.

      Als Kung der jungen Frau an seiner Seite behutsam den Rücken streichelte, löste sich ihre Erstarrung, und sie begann, heftig zu zittern. »Das ist meine Schuld«, schluchzte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Sie sind hinter mir her, und jetzt haben sie Onkel Wu …«

      »Sie?«, sagte Kung. »Wer sind ›sie‹?«

      »Ich weiß es nicht!«, jammerte Xialong. »Ich weiß es doch nicht! Ich weiß gar nichts!«

      »Trotzdem müssen wir überlegen, wie es jetzt weitergeht«, sagte Kung. Ihr Weinen machte ihn verlegen, und jetzt, da die Wirkung des Neeze nachließ, beschlich ihn kalte Angst. Auf einmal erschien es ihm durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass auch er die unsichtbare Grenze zwischen Unbeteiligtem und Mittäter längst überschritten hatte, auch wenn nach wie vor unklar war, worum es überhaupt ging. »Du musst irgendwo untertauchen«, sagte er. »Erst einmal zur Ruhe kommen. Bei einem Freund.«

      »Ich habe keine Freunde«, schniefte sie.

      »Das glaube ich nicht. Jeder hat doch Freunde – ich meine, jeder außer mir. Zumindest irgendwelche Bekannte, die er um einen Gefallen bitten kann.«

      Xialong schüttelte den Kopf und überlegte angestrengt. Ihr Lover Choum? Sie hatte mit ihm geschlafen, doch sie kannte ihn nicht, und er kannte sie nicht. Er wollte morgen nach Honkong zurückfliegen. Würde er bereit sein, die Rückreise zu verschieben, wenn sie ihn um Hilfe bäte? Und was könnte er überhaupt für sie tun, außer sie mit verlegenen Allgemeinplätzen beschwichtigen? Er war hier ein Fremder, kannte sich nicht aus.

      Dann vielleicht Tse Ma, ihre Nachbarin aus dem Wohnturm, deren Ameisen sie manchmal fütterte, wenn sie verreist war? Außer ein paar Bemerkungen über das erstaunlich komplexe System der Plexiglasröhren, die ihre ganze Wohnung durchzogen, hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Zhang Sammo hatte sie noch nie privat getroffen, die Angestellten kannte sie nur aus dem Geschäft. Sa Sun, die Tochter ihres Englischlehrers, mit der sie einige Male ausgegangen war, hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal übers Com. Und ihre Mutter … ihre Mutter war vorerst nicht zu erreichen. Abgesehen davon wusste sie ihre Comadresse nicht, kannte nicht einmal ihre Mailadresse auswendig, das hatte alles Ken für sie arrangiert, und das, was von ihm noch übrig war, war auf ihrem Com gespeichert, das sie bei Onkel Wu liegen gelassen hatte und das jetzt vermutlich in den Händen der Leute war, die ihn entführt oder verhaftet hatten. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, am Tor des Kleinen Himmels zu klingeln und darauf zu hoffen, in der Wohnung ihrer Mutter jemanden anzutreffen, der ihr helfen konnte. So wie die Dinge standen, wäre das zu gefährlich gewesen. Und sonst … sonst gab es niemanden. Sie hatte keine Freunde. Sie war reich, erfolgreich, zu Großem bestimmt – СКАЧАТЬ