Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte. Martin Luther
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СКАЧАТЬ War das nicht lieb von dem Nähröschen? Es hat rote Haare und wohnt in dem kleinen Haus, vor dem im Sommer die hohen roten Blumensäulen stehen, und hat neun Geschwister, und wenn sie abends heimkommt, macht sie denen noch alle Kleider.«

      »Ein treffliches Nähröschen! Und wo ist das Häuschen, vor dem im Sommer die Blumensäulen – das sind wohl Malven – stehen?«

      »Zuerst kommt ein grünes Feld, darauf sind weiße Sterne und gelbe Krönchen, wenn die Sonne freundlich ist, und dann kommt man an die steilen Bäume, die hinaufstarren und die seufzen.« »So wär's am besten, wir machten uns jetzt auf die Beine und gingen zu dem Nähröschen. Die hat gewiß noch einen Apfel, denn ich habe keinen mehr. Und das ist ein kalter Sitz und das Stiefbein friert.«

      Aber sie schüttelt wieder. »Ich will hier bleiben. Ich bin ja sonst den ganzen weiten Weg umsonst gegangen.«

      Und nun strahlt das volle süße Kindervertrauen aus den erhobenen, sanften Augen. »Ich will auch nicht mehr zurück und will warten, bis die Nacht kommt, und Hunger habe ich keinen mehr, weil du mir den Apfel gegeben hast.«

      »Die Nacht willst du da bleiben und fürchtest dich nicht! Du hast etwas Gutes vor. Weißt du denn nicht, daß die Leute, wenn die große Kälte kommt, einschlafen und nicht mehr aufwachen?«

      »Ich werd schon nicht einschlafen. Ich warte ja! Sieh doch die Bäume da am Weg und die weißen Schwertchen und die Krönchen und die silbernen Fransen, und die Perlenschnüre und die Bänder! Warum haben die sich so angezogen? Die warten alle, und daß etwas kommt, das wissen die ganz gut. Und vorher ging ein Reh vorbei, das sah mich an und wußte es auch.«

      »Das fühlst du auch, du? Du kleines Seelchen! Wie heißt du denn?«

      »Ich habe viele Namen, aber keiner ist der rechte. Und bei Nacht kommt mir, ich wisse den rechten, und am Morgen habe ich ihn wieder vergessen! ›Arme Kleine,‹ sagt mein Vater zu mir. Aber so will ich nicht heißen. Und ich bin fortgegangen: daß es aber der rechte Weihnachtswald ist, habe ich erst gesehen, wie ich drin war.«

      Da beugt er sich vor und hebt das Geschöpflein trotz dem strengen Duft des Tuchs auf seine Knie und schlägt seine Lodenjacke um das eine kalte Bein mit dem großen Loch im Strumpf. Nun fürchtet sie sich gar nicht mehr und nestelt an seinen braunen Hirschhornknöpfen herum.

      »Weißt du, das mit dem Christkind, das die schönen Sachen bringt, das ist alles erlogen. Es steht alles im Katalog. Puppen und Wagen und Soldaten und alles. Und wenn ein rechtes Christkind wäre, so wüßt es, daß ich keine neuen Puppen will, die gar nichts von mir wissen und mich nicht kennen.«

      »Die alten kennen dich wohl?«

      »Wenn ich sie doch abends immer ins Bett lege und nie auf einem Stuhl lasse! Aber vor Weihnachten gehen immer die alten Puppen fort, und es bekommen sie die bösen Kinder, und seh ich sie dann wieder, dann haben sie schmutzige Kleider, und die Lilla, die mit den schönen Locken, die hatte nur noch ein Auge und der Arm hing ihr herunter. Und nun spiel ich nicht mehr mit Puppen.«

      »So verekelt haben sie dir's, armes Seelchen!«

      Aber sie muß weiter an ihrem Faden spinnen. »Und das rechte Christkind, das weiß, was einen freut, das kommt doch nicht zu mir. Deshalb bin ich herausgekommen. Hör, wie der Baum seufzt. Und wenn's ein Christkind gibt, so muß es hierher kommen. Und wenn man einschläft und muß nie mehr zurück und sich auslachen lassen, weil man so ein Dummes ist und die rechten Worte immer nicht sagen kann, die alle andern Kinder gleich wissen, und es käme das Christkind vorbei, und läutete so fein mit seinen Glöckchen... Hörst du's nicht? Seit ich im Wald bin, hör ich's und bin ihm nachgegangen, so weit, so weit, daß ich gar nicht mehr zurück kann, weil es viel zu weit ist. Und wenn ich einschliefe, so käme meine Mutter heraus und holte mich, die liegt in einem silbernen Sarg und hat mein kleines Brüderlein im Arm. Und das darf immer bei ihr liegen, wenn ich lernen muß und wenn ich ganz allein in meinem Bett liege und nur leise weinen darf, daß es keiner hört. Und vielleicht nähme sie mich dann in den andern Arm. Und ich wollt schon bei ihr in dem silbernen Sarg bleiben. Da könnten die lachen; ich hörte nichts mehr, denn es ist eine dicke eiserne Tür über dem silbernen Sarg und ein Siegel darauf, und kein Mensch darf herein.« »Und das Lachen, das tut dem armen Seelchen so weh, wenn es die rechten Worte nicht findet?«

      »Weißt du das denn nicht? Dich lachen sie doch auch alle aus!«

      »Mich! Ja kennst du mich denn?«

      »Du bist der Ruinengraf. Und warum gibst du den Mäusen, den netten kleinen, die sich hinsetzen können wie rechte Leute, und aus den Händchen essen, warum gibst du denen nichts? Mir hast du doch gleich den Apfel gegeben?«

      »So – den Ruinengrafen nennen sie mich! Nicht übel, es ist immer gut, wenn man seinen Namen weiß,« brummt er. »Den Ruinengrafen! Und was für wunderbare Dinge du weißt! In einem silbernen Sarg liegt deine Mutter, du Armes! Und wohin gehörst du nun? Und warum geb ich den Mäusen nichts?«

      »Ich höre manchmal, was sie in der Nähstube reden, die geht in den Lindenbaum, und da hab ich eine Treppe hinauf. Und die Margarete, die dick ist und wie ein Herr ein kleines Bärtchen hat, sagt, es wäre eine Schande, daß du in dem Geklüft wohntest, und du wärest so arm, daß die Mäuse mit verweinten Augen einem entgegenliefen, wenn man an deine Mauer käme.«

      Nun lacht er laut auf, erschütternd und gewaltig dröhnt es aus der mächtigen Brust auf, ein urgermanischer Ton ist das in der verzauberten Waldstille. Das Seelchen erschrickt fast; dann läutet plötzlich ihr feines klingendes Lachen, wie wenn ein Vogel mit seinem Flügel eine Harfensaite berührte, daß die ein weniges klänge.

      »Nein, die haben's zu arg gemacht – und auf die Mäuse will ich achten, daß sie ihr anständiges Futter kriegen.«

      »Ich hab dich dann gesehen, wie du mit deinem Knecht gegangen bist, der aussieht wie der Kaliban in dem roten Buch, und du hast mir so leid getan, weil du so arm bist und so groß wie kein anderer, und nicht einmal die kleinen Mäuse bei dir satt kriegen. Aber nun ist's nicht wahr! Die lügen oft.« Wohin mag doch das vermummte Kind gehören, dessen Mutter in dem silbernen Sarg liegt? Nicht in das kleine Städtchen, so weit her kann sie nicht gekommen sein. Ihr Deutsch klingt fremdartig und zuweilen ein wenig stockend, als ob es nicht die Sprache sei, die sie immer spreche. Welch eine Woge des Schicksals mochte das arme Seelchen in das Waldland verschlagen haben? Die Waldleute sind ein wanderlustiges Volk. Kein Haus in dem uralten, noch umwallten Städtchen oder in den heimeligen Dörfern, das nicht ein Glied über See hätte. Sie haben dann allerhand Schicksale, diese Waldleute, kommen zu Geld und Ehre und verlieren auch beides wieder. Aber sie sieht nicht nach dem Menschenschlag aus. Er könnte es jetzt wohl aus ihr herauspressen, wohin sie gehört, aber es ist gar zu schön, in dem verzauberten Wald auf das feine Märchenstimmchen zu hören. Und er sollte doch die feinen Linien kennen, diese langen Lider, es ist wie ein Rätsel, das sich ihm jeden Augenblick lösen kann. Und er wird sie ja sicher nach Hause bringen. Vielleicht tut's den Ihrigen, die so wenig das arme Herz kennen, gut, wenn sie sich ein kleines absorgen. Und über dem keimt in seinem Herzen eine ferne, schwache Hoffnung auf. Vielleicht ist's ein armes Verlassenes unter Fremden, denen nichts an dem Seelchen liegt. Aber gleich schilt er sich einen Träumer. Kinder, die unter allen Umständen an Weihnachten einen neuen Puppensegen – »aus dem Katalog« – über sich ergehen lassen müssen, gehören nicht armen Leuten. Da legt sie ihr eingewickeltes Köpfchen an seine Brust: müde ist sie und so froh, als ob ihr das Reden von ihrem Leid schon einen Stein vom Herzen genommen hätte. So geborgen, als schließe der weiße Ring der Bäume in ihrem feierlichen Schweigen sie ein und beschlösse sie für immer und immer, und vielleicht kommt das Christkind doch.

      Und es fängt der zartgraue Himmel an, sich hinter dem zierlichen Gegitter der Zweige, die so СКАЧАТЬ