Название: Die wichtigen Werke von Arthur Schopenhauer
Автор: Arthur Schopenhauer
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9788027208456
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Für das Vermögen der Begriffe habe ich die Vernunft erklärt. Diese ganz eigene Klasse allgemeiner, nicht anschaulicher, nur durch Worte symbolisirter und fixirter Vorstellungen ist es, die den Menschen vom Thiere unterscheidet und ihm die Herrschaft auf Erden giebt. Wenn das Thier der Sklave der Gegenwart ist, keine andere, als unmittelbar sinnliche Motive kennt und daher, wenn sie sich ihm darbieten, so nothwendig von ihnen gezogen oder abgestoßen wird, wie das Eisen vom Magnet; so ist dagegen im Menschen durch die Gabe der Vernunft die Besonnenheit aufgegangen. Diese läßt ihn, rückwärts und vorwärts blickend, sein Leben und den Lauf der Welt leicht, im Ganzen übersehn, macht ihn unabhängig von der Gegenwart, läßt ihn überlegt, planmäßig und mit Bedacht zu Werke gehn, zum Bösen wie zum Guten. Aber was er thut, thut er mit vollkommnem Selbstbewußtseyn: er weiß genau, wie sein Wille sich entscheidet, was er jedesmal erwählt und welche andere Wahl, der Sache nach, möglich war, und aus diesem selbstbewußten Wollen lernt er sich selbst kennen und spiegelt sich an seinen Thaten. In allen diesen Beziehungen auf das Handeln des Menschen ist die Vernunft praktisch zu nennen: theoretisch ist sie nur, sofern die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, auf das Handeln des Denkenden keine Beziehung, sondern lediglich ein theoretisches Interesse haben, dessen sehr wenige Menschen fähig sind. Was in diesem Sinne praktische Vernunft heißt, wird so ziemlich durch das Lateinische Wort prudentia (Umsicht, Lebensklugheit), welches nach Cicero (De nat. Deor., II, 22), das zusammengezogene providentia ist, bezeichnet; da hingegen ratio, wenn von einer Geisteskraft gebraucht, meistens die eigentliche theoretische Vernunft bedeutet, wiewohl die Alten den Unterschied nicht strenge beobachten. – In fast allen Menschen hat die Vernunft eine beinahe ausschließlich praktische Richtung: wird nun aber auch diese verlassen, verliert das Denken die Herrschaft über das Handeln, wo es dann heißt: Scio meliora, proboque, deteriora sequor, oder »Le matin je fais des projets, et le soir je fais des sottises«, läßt also der Mensch sein Handeln nicht durch sein Denken geleitet werden, sondern durch den Eindruck der Gegenwart, fast nach Weise des Thieres, so nennt man ihn unvernünftig (ohne dadurch ihm moralische Schlechtigkeit vorzuwerfen), obwohl es Ihm eigentlich nicht an Vernunft, sondern an Anwendung derselben auf sein Handeln fehlt, und man gewissermaaßen sagen könnte, seine Vernunft sei lediglich theoretisch, aber nicht praktisch. Er kann dabei ein recht guter Mensch seyn, wie Mancher, der keinen Unglücklichen sehn kann, ohne ihm zu helfen, selbst mit Aufopferung, hingegen seine Schulden unbezahlt läßt. Der Ausübung großer Verbrechen ist ein solcher unvernünftiger Charakter gar nicht fähig, weil die dabei immer nöthige Planmäßigkeit, Verstellung und Selbstbeherrschung ihm unmöglich ist. Zu einem sehr hohen Grade von Tugend wird er es jedoch auch schwerlich bringen: denn, wenn er auch von Natur noch so sehr zum Guten geneigt ist; so können doch die einzelnen lasterhaften und boshaften Aufwallungen, denen jeder Mensch unterworfen ist, nicht ausbleiben und müssen, wo nicht Vernunft sich praktisch erzeigend, ihnen unveränderliche Maximen und feste Vorsätze entgegenhält, zu Thaten werden.
Als praktisch zeigt sich endlich die Vernunft ganz eigentlich in den recht vernünftigen Charakteren, die man deswegen im gemeinen Leben praktische Philosophen nennt, und die sich auszeichnen durch einen ungemeinen Gleichmuth bei unangenehmen, wie bei erfreulichen Vorfällen, gleichmäßige Stimmung und festes Beharren bei gefaßten Entschlüssen. In der That ist es das Vorwalten der Vernunft in ihnen, d.h. das mehr abstrakte, als intuitive Erkennen und daher das Ueberschauen des Lebens, mittelst der Begriffe, im Allgemeinen, Ganzen und Großen, welches sie ein für alle Mal bekannt gemacht hat mit der Täuschung des momentanen Eindrucks, mit dem Unbestand aller Dinge, der Kürze des Lebens, der Leerheit der Genüsse, dem Wechsel des Glücks und den großen und kleinen Tücken des Zufalls. Nichts kommt ihnen daher unerwartet, und was sie in abstracto wissen, überrascht sie nicht und bringt sie nicht aus der Fassung, wann es nun in der Wirklichkeit und im Einzelnen ihnen entgegentritt, wie dieses der Fall ist bei den nicht so vernünftigen Charakteren, auf welche die Gegenwart, das Anschauliche, das Wirkliche solche Gewalt ausübt, daß die kalten, farblosen Begriffe ganz in den Hintergrund des Bewußtseins treten und sie, Vorsätze und Maximen vergessend, den Affekten und Leidenschaften jeder Art preisgegeben sind. Ich habe bereits am Ende des ersten Buches auseinandergesetzt, daß, meiner Ansicht nach, die Stoische Ethik ursprünglich nichts, als eine Anweisung zu einem eigentlich vernünftigen Leben, in diesem Sinne, war. Ein solches preiset auch Horatius wiederholentlich an sehr vielen Stellen. Dahin gehört auch sein Nil admirari, und dahin ebenfalls das Delphische Mêden agan. Nil admirari mit »Nichts bewundern« zu übersetzen ist ganz falsch. Dieser Horazische Ausspruch geht nicht sowohl auf das Theoretische, als auf das Praktische, und will eigentlich sagen: »Schätze keinen Gegenstand unbedingt, vergaffe dich in nichts, glaube nicht, daß der Besitz irgend einer Sache Glücksäligkeit verleihen könne: jede unsägliche Begierde auf einen Gegenstand ist nur eine neckende Chimäre, die man eben so gut, aber viel leichter, durch verdeutlichte Erkenntniß, als durch errungenen Besitz, los werden kann.« In diesem Sinne gebraucht das admirari auch Cicero, De divinatione, II, 2. Was Horaz meint, ist also die athambia und akataplêxis, auch athaumasia, welche schon Demokritos als das höchste Gut pries (siehe Clem. Alex. Strom., II, 21, und vgl. Strabo, 1, S. 98 und 105). – Von Tugend und Laster ist bei solcher Vernünftigkeit des Wandels eigentlich nicht die Rede, aber dieser praktische Gebrauch der Vernunft macht das eigentliche Vorrecht, welches der Mensch vor dem Thiere hat, geltend, und allein in dieser Rücksicht hat es einen Sinn und ist zulässig von einer Würde des Menschen zu reden.
In allen dargestellten und in allen erdenklichen Fällen läuft der Unterschied zwischen vernünftigem und unvernünftigem Handeln darauf zurück, ob die Motive abstrakte Begriffe, oder anschauliche Vorstellungen sind. Daher eben stimmt die Erklärung, welche ich von der Vernunft gegeben, genau mit dem Sprachgebrauch aller Zeiten und Völker zusammen, welchen selbst man doch wohl nicht für etwas Zufälliges oder Beliebiges halten wird, sondern einsehn, daß er eben hervorgegangen ist aus dem jedem Menschen bewußten Unterschiede der verschiedenen Geistesvermögen, welchem Bewußtseyn gemäß er redet, aber freilich es nicht zur Deutlichkeit abstrakter Definition erhebt. Unsere Vorfahren haben nicht die Worte, ohne ihnen einen bestimmten Sinn beizulegen, gemacht, etwan damit sie bereit lägen für Philosophen, die nach Jahrhunderten kommen und bestimmen möchten, was dabei zu denken seyn sollte; sondern sie bezeichneten damit ganz bestimmte Begriffe. Die Worte sind also nicht mehr herrenlos, und ihnen einen ganz andern Sinn unterlegen, als den sie bisher gehabt, heißt sie mißbrauchen, heißt eine Licenz einführen, nach der Jeder jedes Wort in beliebigem Sinn gebrauchen könnte, wodurch gränzenlose Verwirrung entstehn müßte. Schon Locke hat ausführlich dargethan, daß die meisten Uneinigkeiten in der Philosophie vom falschen Gebrauch der Worte kommen. Man werfe, der Erläuterung halber, nur einen Blick auf den schändlichen Mißbrauch, den heut zu Tage gedankenarme Philosophaster mit den Worten Substanz, Bewußtsein, Wahrheit u.a.m. treiben. Auch die Aeußerungen und Erklärungen aller Philosophen, aus allen Zeiten, mit Ausnahme der neuesten, über die Vernunft, stimmen nicht weniger, als die unter allen Völkern herrschenden Begriffe von jenem Vorrecht des Menschen, mit meiner Erklärung davon überein. Man sehe was Plato, im vierten Buche der Republik und an unzähligen zerstreuten Stellen, das logikon oder logistikon tês psychês nennt, was Cicero sagt, De nat. Deor., III, 26-31, was Leibnitz, Locke in den im ersten Buch bereits angeführten Stellen hierüber sagen. Es würde hier der Anführungen gar kein Ende seyn, wenn man zeigen wollte, wie alle Philosophen vor Kant von der Vernunft im Ganzen in meinem Sinn geredet haben, wenn sie gleich nicht mit vollkommener Bestimmtheit und Deutlichkeit das Wesen derselben, durch dessen Zurückführung auf einen Punkt, zu erklären wußten. Was man kurz vor Kants Auftreten СКАЧАТЬ