Название: Der vertauschte Sohn
Автор: Андреа Камиллери
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: WAT
isbn: 9783803141729
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Ich habe eine persönliche Erfahrung mit »i donni«: ich erinnere mich, daß, als ich zehn Jahre alt war, Freunde mich unter viel Geheimnistuerei zu einem kleinen, ganz sicher noch keine vier Jahre alten Jungen brachten, dem »i donni« das Schwänzchen umwickelt hatten.
Über Girgenti, über dieses sterbende Städtchen, wird Pirandello allerdings lange und ausführlich schreiben. Dort siedelt er unter anderem den Roman Einer nach dem anderen (Il turno) an, einige Kapitel aus Die Alten und die Jungen (I vecchie i giovani) und zahlreiche Novellen, wobei er Girgenti unterschiedliche Namen gibt, unter anderem »Montelusa«.
Über sein Verhältnis zu Girgenti hat Leonardo Sciascia geschrieben:
»Pirandello wurde dort geboren … Dort verbrachte er seine Kindheit und Jugend; als junger Mann und noch in den ersten Jahren seiner Ehe kehrte er jeden Sommer dorthin zurück; danach seltener. Und bei jeder Rückkehr durchtränkte sich seine Phantasie mit grotesken und bemitleidenswerten Vorkommnissen, die sich dort zugetragen hatten und die seine Angehörigen und Freunde ihm erzählten: und was er hörte, gesellte sich zu dem, was in seiner Erinnerung bereits lebhaft herumwirbelte, und bereicherte es. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Girgenti das, was es seit seiner Kindheit war, mit Persönlichkeiten und Figuren, die die übererregte, überspannte Selbstliebe bis an die Grenze des Wahnsinns trieb: luzide, bis in die kleinste Kleinigkeit eindringende Analytiker der eigenen Gefühle und des eigenen Elends, bis zum Delirium von der Leidenschaft des ›Räsonierens‹ erfaßt, die die Leidenschaft für die Frau und für Dinge noch in den Schatten stellte, darauf bedacht, besessen ihren Schein vor ihrem Sein zu verteidigen, und das vor den anderen und bisweilen vor sich selbst.«
Nein, man kann wirklich nicht sagen, daß Pirandello das traurige, im Sterben begriffene Städtchen gern hatte. Aus Die Alten und die Jungen:
Die öffentlichen Ämter, die Präfektur, das Finanzamt, die öffentlichen Schulen, die Gerichte, all das brachte in der Stadt noch ein wenig Bewegung hervor, freilich eine fast mechanische Bewegung: mittlerweile brodelte das Leben anderswo. Die Industrie und der Handel, die wahren Aktivitäten also, die waren schon seit geraumer Zeit nach Porto Empedocle übersiedelt, das, gelb vom Schwefel, weiß vom Mergel, staubig und lärmend, in kurzer Zeit zu einem der belebtesten und geschäftigsten Hafenplätze auf der Insel geworden war.
In Girgenti hatten nur die Gerichte und die Verwaltungssenate etwas zu tun, denn sie waren das ganze Jahr über geöffnet. Oben auf dem Culmo delle Forche quoll das Gefängnis von San Vito über von Arrestanten, die manchmal drei oder vier Jahre auf ihren Prozeß warten mußten.
Auf der Piazza Sant’Anna, wo die Gerichtsgebäude lagen, im Zentrum der Stadt, fand sich in Massen die Kundschaft aus der ganzen Provinz ein, grobe, ungeschliffene, sonnenverbrannte Kerle.
Die vielen Müßiggänger der Stadt spazierten unterdessen auf und ab, immer im selben Schritt, überwältigt von der Langeweile, mit den automatischen Bewegungen von Schwachsinnigen, immer die Hauptstraße entlang, die einzige ebene Straße der Stadt, mit dem schönen griechischen Namen Via Atenèa; freilich war sie so eng und gewunden wie die anderen. Via Atenèa, Rupe Atenèa, Empedokle – … – Namen waren das: lichtvolle Namen, die das Elend und die Häßlichkeit der Dinge und der Orte noch trauriger erscheinen ließen.
Träges Schweigen, finsteres Mißtrauen und Eifersucht.
Vom Palazzo Montoro in Porto Empedocle wird der kleine Luigi ungefähr im Alter von sieben Jahren von der Familie nach Girgenti gebracht, wohin Stefano umgezogen ist, weil er wieder einmal die Arbeit gewechselt hat.
Sie wohnen jetzt in einem grauen und ziemlich düsteren Haus in der Via San Pietro, die einen schlechten Ruf hat, einsam liegt und der Ort ist, wo Leute aus dem Milieu zusammenkommen oder sich bekämpfen. Von der Via San Pietro aus sieht man noch heute das Meer in großer Ferne, und damals, als es die neuen, eine düstere Wand bildenden Häuser noch nicht gab, konnte man ganz gewiß ein paar Häuser von Porto Empedocle erkennen, zumindest die des Ortsteils Piano Lanterna: doch im Gedächtnis des erwachsenen Luigi kehrt diese Landschaft nicht wieder, es gibt darin keine Erinnerung an ein meerisches Licht, das die Wohnung wenig düster hätte erscheinen lassen. Vielleicht lag die Rückseite der Wohnung zu einem Innenhof hinaus.
… die Straße zeigte noch die alten Umfassungsmauern mit ihren halb zerfallenen Türmen. Im ersten, notdürftig von einer farbverblaßten, kaputten Türe verschlossen, zeigte man die unbekannten Toten, und dorthin wurden auch die Ermordeten für die gerichtsmedizinische Untersuchung gebracht.
In der Nähe der Wohnung liegt die Kirche San Pietro, nach der die Straße benannt ist.
Eines Abends kommt es direkt vor der Haustüre der Pirandellos zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Männern aus dem Milieu. Ein Mann wird durch einige Messerstiche tödlich verletzt. Die Angreifer fliehen, der Verletzte bleibt auf der Straße liegen, ruft um Hilfe und jammert. Das Hausmädchen stürzt herbei und verriegelt Fensterläden und Fenster, damit der kleine Luigi nicht die herzzerreißenden, verzweifelten Schreie des Sterbenden hören muß. Kurz darauf hört man sie nicht mehr, und die Fenster können wieder geöffnet werden. An diesem Abend ist es sehr heiß.
ÜBER DAS VERRIEGELN VON FENSTERN
Wenn man die eben erzählte Begebenheit überdenkt, könnte es so aussehen, als hätten in der Familie Pirandello Gleichgültigkeit, Egoismus und Furcht, in etwas verwickelt werden zu können, geherrscht.
Der Verwundete, das stimmt, wird in seinem Todesschmerz und in seinem Tod sich selbst überlassen. Aber das Nicht-sehen-Wollen, das Nicht-hören-Wollen war das am weitesten verbreitete und durchaus übliche Verhalten der sizilianischen Bourgeoisie, ganz gleich, ob es die große oder die kleine war, und diese Haltung kann man mit den überaus einfachen Worten zusammenfassen: ›Deren Sache.‹ Aber wer sind ›deren‹? Die, die keine zivilisierten Menschen waren, ›ehrenwerte Leute‹, die ihre Angelegenheiten mit Messerstichen, Revolverkugeln oder Schüssen aus einer Lupara erledigten. Zwischen den Kriminellen, ob sie zur Mafia gehörten oder nicht, und den ›zivilisierten‹ Menschen wurde eine Mauer errichtet, eine dem Augenschein nach genau festgesetzte Grenzlinie, und die ›Zivilisierten‹ hüteten sich, darin verwickelt zu werden, sich mit Blut zu besudeln (etwa wenn sie einem Verwundeten zu Hilfe kamen), das Gewalt und Übergriffe so häufig fließen ließen.
In einem Salon ›zivilisierter‹ Menschen über Dinge zu reden, die mit der Mafia zu tun haben, ist so geschmacklos, wie während eines Galadiners über Bauchschmerzen zu reden.
›Deren Sache‹ also, und so sollte es gefälligst auch bleiben.
Zumindest dem Augenschein nach.
Denn wenn sie ein Problem hatten, das auf legalem Weg offensichtlich unlösbar war und mithin nach nicht sehr orthodoxen Wegen verlangte, hatte der größte Teil dieser sogenannten anständigen Leute durchaus keine Skrupel, über Freunde von Freunden um die Unterstützung und Hilfe des einen oder anderen örtlichen Mafiabosses nachzusuchen, der ja bestens bekannt war, weil man ihn als solchen mit Vor- und Nachnamen samt seiner Anschrift kannte.
Die Mafia, in der Öffentlichkeit hartnäckig und scheinheilig ignoriert, wurde bei bestimmten besonderen Privatangelegenheiten zur Kenntnis СКАЧАТЬ