Название: Die Fahrt zur Unsterblichkeit
Автор: Max Geißler
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711467664
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Zuerst fühlte er das nicht. Denn die Hütten der Siedlungen waren von jener heimeligen Art, an die er sich in den drentischen Dörfern gewöhnt hatte. Es waren da die steilen Strohdächer, tief herabgezogen. Und es war auf diesen Dächern das sammetige Moos. Vom Spiele der Sonne und Zeiten wurden auf dies Moos in seiner Heimat alle Farben aus dem Malkasten des Weltenbaumeisters gestrichen. Auch hier fehlte dies Wunder des Lichts nicht ganz. Nicht ganz.
Manchmal ward er gesehen, wie er vor einer Hütte sass und zeichnete. Oder drinnen bei einer Frau am Herdbrand. Oder bei einer Haustochter. Er gab mit derlei Studien im Zeichnen seinen freien Stunden einen Inhalt.
Es war nicht viel, was er damals zustande brachte — vielleicht nicht viel; denn er ahnte noch gar nicht, wohin das mit ihm wollte.
Die Bäckerfrau, seine Nachbarin, dachte nach Weiberart nah und irdisch über dieses neuen Predigers Lust am Zeichnen.
„Es sind keine schönen Menschen in der Borinage“, sagte sie eines Tages zu ihm. „Die Frauen sind dürr und nicht blank, und sie sind auch stumpfer an ihren Sinnen als anderswo. Die Mädchen hier haben keine Jugend. Daran sind die Kohlen schuld. Wie kann ein Mann Lust haben, bei solch einer zu schlafen? Alles ist dreckig vom Teller bis zum Bett, vom Strumpfband bis zur Halskrause. Dazu ihr dunkles Haar und ihre porige gelbliche Haut, in die sich der Kohlenstaub einnistet! Sie haben auch gebeugte Rücken. Es trägt jede ihren Sack voll Schlacken.“
Diese Bäckerfrau war in den dreissiger Jahren und von dem rundlichen Schnitte der Holländerinnen. Auch war sie von einer gesunden und tüchtigen Art und von einer inneren Freudigkeit, die dies Land mit den Wegen aus Stückkohlen sonst nicht zuliess. An guten Tagen leuchtete ihr niederländisches Blondhaar ganz hell und heimatlich. Sie war hier die einzige von solcher Blankheit. Einst hatte sie nicht richtig abzuschätzen gewusst, was es mit dieser Gegend für eine Bewandtnis habe, in die sie ihrem Manne vor neun Jahren gefolgt war.
In den ersten Tagen seines Hierseins sagte sie von ihrem neuen Nachbar, dem Prediger: „Er ist ein Jan van Moor. Es hat wohl früher ein Bär aus ihm werden wollen. Es kommt mir so vor, als hätten sie ihn draussen im blauen Lande nicht verbrauchen können.“
Wenn sie nicht also hätte denken müssen, hätte sie ihm die kleine Kammer in ihrem Haus eingeräumt. Aber einer, der so karg vor sie hinstand, so maulfaul und ungefüge! Solch einer konnte ebensogern drüben in dem Verschlage des Bretterbaues schlafen, der für ihn und den Notfall hergerichtet war. Mit dem Strohsacke, der darin lag, gelangte das Land der Sehnsucht des neuen Predigers zu einer gewissen komfortablen Vollendung.
An einigen Abenden war die blonde Bäckerfrau auch im Saale gewesen. Sie wollte sich selber überzeugen von der Klugheit, deretwegen sich viele von den Leuten an ihm wunderten — wenn diese Art Klugheit ihren Wünschen auch nicht in allen Stücken entsprach. Etliche sagten sogar: „Er ist ein grausam gescheiter Mensch; aber er ist ein Naturforscher und ist kein Prediger.“
Darauf, dass er ein Künstler sei, verfiel keiner; denn sie sahen mit ihren ungeübten Augen, was er auf sein Zeichenpapier strich: lange dürre Menschen, an denen kaum etwas zu sehen war als die drei Übermasse der Länge, der Dürre und der Vermühtheit. Oder Weiber von herausfordernder Hässlichkeit. Albern. Oder täppisch. Sie sahen sich darin beleidigt. Aber auch für die willigsten unter ihnen war aus diesen Zeichnungen nichts anderes zu erkennen als die Kunstübungen eines kindgewordenen Mannes. Denn was da an Perspektive, was an Verheissungen oder schon an Erfüllungen vorhanden war, das konnten sich weder ihre Sinne noch ihr Verstand ausdeuten.
Es fällt deswegen kein Schatten auf diese. Denn Jahre danach, als er für einen Maler von unerhörter Eigenart galt, da standen sogar die Kunstgebildeten vor seinen Bildern und zuckten die Achseln und sagten: „C’est un fou!“
Eines Tages war der Bäcker über Land gefahren, Ferkel zu kaufen. Da ging sie mit einer Schütte Haferstroh und einer zweiten Schlafdecke hinüber in den Bretterbau. Sie fand den Bewohner nicht daheim und wollte nach seinem Lager sehen. Schüttelte den Liegesack auf und strich mit dem Besen Staub und Halmbruch aus dem Verschlag. Dann lehnte sie einen Augenblick gegen den Türpfosten, sann ihrem Mitleid nach und sagte: „Ist er nun ein Tier, dass er in solch einem Stalle wohnt — oder ist er Gottes Sohn?“
Vor dieser Zusammenstellung der Gedanken erschrak sie sehr und lief nebenan in ihr Haus, als sei ihr ein Versäumnis eingefallen.
Gleich danach schritt das Tier oder der Gottessohn gegen ihre Fenster an. Quer auf den Wiesen, die wegüber lagen.
Da stellte sie sich, breit und blank wie sie war, hinters Fenster. Aber er kam mit geneigtem Kopf und lugte prüfend auf ein Blatt in seinem Skizzenbuche.
Sie klopfte also hastig an die Scheibe, als er in Hörweite war, riss den Flügel auf und reichte ihm zwei gelde Semmeln hinaus.
„Nachbarin“, sagte er, „ich habe mein letztes Geld in das Haldenhaus getragen.“ (Es war dort eine Witwe mit ihren drei Kindern, der hatte das Schlagwetter im Stollen den Mann gemordet.)
„Ihr sollt die Semmeln doch nehmen“, sagte sie. „Ich will keine Bezahlung. Es ist aber auch kein Almosen. Und eine herzliche Guttat darf man Euch wohl erweisen, he?“
Dabei besann sie sich auf den vorigen Gedanken, wie sie ihn erniedrigt und frevelhaft erhöht hatte. Und nun lehnte er sich so mit den Armen auf den Fensterstock. Seine Worte widerklangen von fast dankbarem Vertrauen zu ihr. Dann sagte sie: „Wenn Ihr nur mehr an Euch selber denken wolltet! Ihr könntet dann in der Borinage ein ganz erträgliches Leben führen.“
Sie redeten noch miteinander, da trugen vier Bergleute auf einer Trage einen Menschen vorüber. Sie kamen den Weg vom Schachte herein . . .
„Oh, oh, wieder ein Wetter?“
„Nein, er ist im Fieber zusammengebrochen“, sagte einer.
Als die Nacht dann zwischen den Halden lag,war sie schwer, schrecklich und fremdartig. In ihrer schwülen Finsternis ertrank alle Erinnerung an den Zauber des Tages. Es war, als sei dieser Tag eine Lüge gewesen. Denn durch jene arge Nacht trugen sie Kranke von den Schächten herein. Typhus! Und der Bäcker, der auf seinem Wagen vom Handel kam, kroch vom Sitz, als wären ihm die Knochen mit Blei ausgegossen.
Da lief die Meisterin in ihrer Angst in den Bretterbau, wo der Nachbar noch unter der Lampe sass — ganz allein in dem weiten öden Raum — und schrie ihn an: „Schirr den Gaul ab und bring ihn in den Stall und füttere!“ Dann lief sie gleich wieder hinaus und betreute ihren Mann. Auf dem Bettrand riss sie ihm die Kleider vom Leibe, wickelte ihn in Zudecken, kochte Tee und presste den Saft einer Zitrone hinein. Das Trinkgefäss hielt sie ihm an die Lippen. Denn das sah sie wohl, dass er sich nicht mehr allein bedienen konnte. So schlecht stand es mit ihm. Nach einer halben Stunde rang er mit spukhaften wachen Träumen. Er wollte im Fieber an den Backtrog laufen.
An seinen zerrissenen Worten merkte sie, dass es bei ihm um Tod und Leben gehe. Da raffte sie alle Kraft zusammen und sagte: „Du hast dich um gar nichts zu sorgen in dieser Zeit! Ich habe schon den Nachbar zu Hilfe gerufen, den Prediger. Er hat das Pferd in den Stall gebracht. Es wird im Haus alles geschehen, als wenn du wohlauf wärest. Erkennst du das nun? Wir zwei — der Prediger und ich — wollen Semmeln und Brot backen. Ich will ihm für seine Hilfsbereitschaft die Kammer samt dem Bett in unserem Hause geben; damit er gleich zur Hand ist, wenn die Not grösser wird. Verstehst du das? Wenn du Hunger hast, so musst du es sagen. Und wenn du trinken willst, sag es auch! Es ist aber viel besser, du nimmst dir vor: ich will jetzt drei Wochen schlafen.“
Darüber verfiel er in ein wildes Gebaren und СКАЧАТЬ