Marienbrücke. Rolf Schneider
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Marienbrücke - Rolf Schneider страница 8

Название: Marienbrücke

Автор: Rolf Schneider

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788711449455

isbn:

СКАЧАТЬ er war Vollhumanist, aber Griechisch und Hebräisch wurden im Fürst-Albrecht-Gymnasium schon lange nicht mehr unterrichtet, zu seinem Kummer. Er trug meistens speckig glänzende Anzüge. Bei seinen Schülern hatte er den Spitznamen Jupiter tonans. Unter seinem Dirigat sangen zum Abschluss der Feier alle Versammelten gemeinsam das alte Studentenlied Gaudeamus igitur.

      Neben Linde und Wappenstein führten steinerne Stufen hinan zum höher gelegenen Platz vor der evangelischen Martinskirche. Auf der anderen Seite des Treppchens stand efeuumwachsen das Gebäude, das der Pedell bewohnte und das zudem ausgestattet war mit einem freilich seit Längerem nicht mehr benutzten Karzer. Der Pedell war ein kahlköpfiger Mann mit einem riesigen Buckel. Sein Spitzname lautete Marabu. Er ging langsam und gravitätisch, silberne Taschenuhr in der Hand, von seinem Hause aus quer über den Schulhof bis zum Hintereingang des Gymnasiums, um dort die Glocke zu läuten. Damit begann die neue Unterrichtsstunde. An der Mauer des Hauses, wo Marabu, der Pedell, wohnte, hing in rostigen Halterungen eine hölzerne Feuerleiter.

      Als Sextaner des Fürst-Albrecht-Gymnasiums saß Jacob in der Mittelreihe, zweite Bank, und war damit Banknachbar von Hans Dietrich Lehmann. Der wurde Ytsche gerufen, und Ytsche war für Kröte das ostfälische Wort. Ytsche Lehmann hatte braunes Haar, das sich kräuselte, und neigte zur Fettleibigkeit. Feistes weißes Fleisch wuchs aus Ytsche Lehmanns ledernen Hosenbeinen, und in die geöffneten Krägen von Ytsche Lehmanns rotkarierten Hemden hing schwammig Ytsche Lehmanns Doppelkinn.

      Seinen Eltern gehörte die Firma Witold & Söhne, in der Langen Gasse, die gleich hinter dem Rathaus anfing und durchs älteste Grotenweddingen lief. Hier waren sämtliche Straßen eng, gekrümmt und dämmerig. Witold & Söhne verkauften aus Holz gefertigte Gegenstände, nämlich Möbel für Wohn- und Schlafzimmer, und außerdem Särge. Witold & Söhne, Inh. Dietrich Lehmann, führten jede dieser zwei grundverschiedenen Warenarten in jeweils einem eigenen Laden. Beide Geschäfte lagen nebeneinander auf der Langen Gasse und waren vom Hausinneren her über einen gemeinsamen Korridor zu erreichen.

      Jacob ging manchmal zu den Lehmanns ins Haus. Er büffelte mit Ytsche Latein und Mathematik, worin Ytsche schwach war. Jacob sah sich das Haus und den Wirtschaftshof von Witold & Söhne an.

      Möbel bezogen Witold & Söhne, sagte Ytsche, von entsprechenden Fabriken aus dem Hannoverschen. Särge wurden in eigener Tischlerei hergestellt, sah Jacob, auf Vorrat oder auch auf Bestellung. Die Werkstatt befand sich hinter dem Laden-, Büro- und Wohntrakt der Lehmanns in einem Wirtschaftshof, wo es außer einer Remise für Fahrzeuge noch einen Hühnerstall gab. Die Federtiere wurden tagsüber auf den Hof geschickt, scharrten nach Kerfen und rannten immer wieder durch die geöffnete Tür in die Werkstatt. Sie waren dort raschelnd zugange, sprangen auf die Ränder halbfertiger Sarghälften und setzten ihren Kot zwischen Hobelspäne. Unter denen, wusste Ytsche und zeigte es Jacob, wenn gerade niemand in der Nähe war, versteckte Männe Festerling seine Schnapsflaschen. Marianne Lehmann, Ytsches Mutter, war argwöhnisch Männe Festerlings lästerlichen Trinkgewohnheiten hinterdrein, sie sah auf Ordnung und hatte wohl recht damit.

      Dabei roch man es Männe Festerling nicht an, dass er trank. An Männe Festerling hing ausschließlich der Geruch von Knochenleim, der in der Tischlerei als Inhalt eines großen schwarzen Eisenkübels auf dem Feuer stand, süßlich vor sich hinbrodelte und zähe honigfarbene Fäden zog. Außerdem tat Männe Festerling den Mund kaum auf. Er war gänzlich sprachbehindert. Er war dies nicht, weil er etwa taub gewesen wäre, er konnte hören und hörte ganz gut. Männe Festerling war von einer Lähmung betroffen, und die hatte außer seiner Sprechfähigkeit noch ein Augenlid, das rechte, das infolgedessen ständig herunterhing, und seinen rechten Mundwinkel heimgesucht. Der Mund stand ihm immer offen nach rechts hin und hing wie das Lid herab. Krumme Zähne mit bräunlichen Flecken wurden sichtbar hinter hellgrauen Lippen. Weißer Sabber rann Männe Festerling aus dem rechten Mundwinkel bis in die silbrigen Bartstoppeln, denn Männe Festerling rasierte sich nicht oft.

      Männe Festerling, erfuhr Jacob, war im Alter von fünf Jahren von einem Hengst getreten worden, auf der Domäne Behncke, und liegen geblieben mit einer Öffnung im Schädel, wo sich blutig weiß etwas Hirn erkennen ließ. Der Schädel heilte wieder zu, aber seither humpelte Männe Festerling, hielt sich schief, und dazu, wie seine Eltern in der Landwirtschaft zu arbeiten, taugte er nun nicht mehr. Von allen seinen rechten Gliedmaßen waren Arm und Hand noch am besten zu gebrauchen, also lernte er in Behncke bei Dietrich Lehmann das Schreinern. Dietrich Lehmann nahm Männe Festerling mit nach Grotenweddingen in die Lange Gasse, als er Marianne Witold heiratete, oder vielmehr heiratete Marianne Witold Dietrich Lehmann, denn ihr Vater war ganz plötzlich am Schlaganfall gestorben, und die Sargtischlerei brauchte einen neuen Meister.

      Das Möbelgeschäft wurde erst viel später eröffnet, weil irgendwann Marianne Lehmann der dauernde Umgang bloß mit Toten und Hinterbliebenen zu genierlich war. Da passte es gut, dass Möbelhändler Isidor Goldmann sein Geschäft aufgeben wollte, um aus Grotenweddingen überzusiedeln nach England. Er war schon mit einer kleinen finanziellen Abfindung zufrieden.

      Marianne Lehmann, sah Jacob, war bei Witold & Söhne die unumstrittene Herrscherin. Alle mussten sich vor ihr ducken, sogar Dietrich Lehmann, der Meister, und natürlich Ytsche, der bloß das Kind war, und Männe Festerling sowieso.

      Männe, trink dich nich!, rief Marianne Lehmann oder: Hasse wieder jetrunken, Männe!

      Marianne Lehmann hatte eine scharfe Stimme, die sie aber auch zurücknehmen und weinerlich machen konnte, wenn Hinterbliebene auftraten, traurig waren und einen Sarg bestellten. Marianne Lehmann hatte böse schwarze Augen und trug an kurzen Knochen viel strammes Fleisch. Auf lauten hohen Hacken ging sie durch die raschelnden Hobelspäne der Tischlerwerkstatt, dass die Hühner aufstoben, und redete herrisch mit Männe Festerling.

      Ick wer dich noch ma rausschmaaßn, Mann!

      So was brachte Männe Festerling, konnte man seinem halbgelähmten Gesicht trauen, einen tödlichen Schrecken bei. Er senkte demütig den Kopf, dass ihm der Sabber statt in die Bartstoppeln auf den Werkstattboden lief, zwischen die Hobelspäne.

      Außer dem Meister, der medizinisch beurkundet ein schwaches Herz hatte und tatsächlich manchmal blaurot anlief, war Männe Festerling der Einzige, der seit Vorkriegszeiten in der Sargwerkstatt von Witold & Söhne Arbeit tat. Drei Gesellen hatten Soldat werden müssen und dienten an verschiedenen Fronten. Einer war schon vermisst. In der Tischlerei arbeiteten zwei Leute, die Marianne Lehmann Pollacken nannte, obschon einer von ihnen aus Dänemark kam. Wenn Dietrich Lehmann den Zylinder aufsetzte und anschließend den schwarzen Transportwagen mit silbrigem Girlandenmuster aus der Remise holte, um dabei zu sein, wenn seine zwei Pollacken eine frische Leiche einsargten, war Männe Festerling der Einzige auf dem Hof, dem man etwas sagen konnte. Das, wenn er darüber nachgedacht hätte, musste Männe Festerling das Selbstbewusstsein kräftigen, aber hatte er darüber nachgedacht?

      Dem Wirtschaftshof von Witold & Söhne schloss sich das Untersuchungsgefängnis an. Dessen Wand zum Hof hin hatte im ersten Stock mehrere Fenster, die sich im Sommer öffnen ließen. Hinter den Gittern waren Frauengesichter, denn der Trakt neben dem Hof von Witold & Söhne war ein reiner Frauentrakt. Er erregte Jacobs Neugierde. Während zweier Wochen im Juni wurde hinter einem der geöffneten Fenster ein weiblicher Untersuchungshäftling sichtbar, der flirrende schwarze Haare hatte, sehr weiße Zähne und einen großen goldenen Ohrring.

      Eines Dienstagnachmittags gegen zwei humpelte Männe Festerling über den Hof. Ytsche Lehmann und Jacob saßen an einem Tisch in Ytsche Lehmanns Zimmer. Das Fenster war geöffnet und ging auf den Wirtschaftshof. Jacob konnte sehen, wie Männe Festerling eben mal eine sperrige Kiste mit Sargbeschlägen absetzte und seufzend die Arme lockerte.

      Da war ein Pfiff. Jacob beugte sich vor. Die schwarzhaarige Person hinter dem Fenster im Untersuchungsgefängnis hatte die Lippen gespitzt und pfiff eine Terz. Do, mi, do. Auch Männe Festerling hörte hin. Er blickte hoch und erkannte im Fenster СКАЧАТЬ