Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler
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Название: Aufbruch in die Dunkelheit

Автор: Mark Stichler

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783948346225

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СКАЧАТЬ mit ihm zu den Treffen mit Simon und Ava Mandelbaum – ihren kleinen Salon, nannte Ava es im Scherz – gegangen, von denen er früher keines verpasst hatte. Die Unterhaltungen, die er geliebt hatte, erschienen ihm heute eher kindisch und weltfremd.

      Sind es überhaupt meine Ansichten, die zur Debatte stehen, fragte er sich, als er die dunkle Treppe nach oben zum kleinen Salon nahm. Durch den Türspalt drang etwas Licht und er vermutete, dass Hans noch wach war. Oder sind es nur Ansichten, die ich mir zugelegt habe, weil sie ganz praktisch sind? Abgeklärt, vernünftig, ohne große Leidenschaft … Aber für was soll Leidenschaft auch gut sein? Sie bringt einen nur in Schwierigkeiten. Er hatte plötzlich die leise Befürchtung, um eine Auseinandersetzung mit Hans nicht herumzukommen, wenn er jetzt den Salon betreten würde.

      Eduard zögerte einen Augenblick, dann öffnete er die Tür und warf einen Blick hinein. Tatsächlich war Hans noch wach. Er lag halb auf dem Sofa, die Füße auf einem kleinen Schemel vor dem Couchtisch, und war vertieft in die Lektüre seines Buchs. Eduard wusste, was Hans zurzeit las: Es war Die Anatomie der Melancholie. Robert Burton, ein anglikanischer Geistlicher und Gelehrter, hatte es Anfang des 17. Jahrhunderts verfasst. Eduard selbst hatte es Hans empfohlen, hauptsächlich wohl, um ihn endlich einmal wieder auf andere Gedanken zu bringen. In letzter Zeit hatte er sich in seiner Freizeit fast ausschließlich mit Autoren wie Karl Gutzkow oder Heinrich Laube beschäftigt. Für Eduard waren das Sozialisten reinsten Wassers. In Hans’ Zimmer – er hatte es seinem Bruder unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut – lagen gut versteckt ein paar Aufsätze von Karl Marx. Wenn ihr Vater davon erfuhr, würde er seinen Sohn wahrscheinlich ohne Weiteres aus dem Haus jagen. Mindestens, hatte Hans gesagt und gelacht, als er Eduard die Schriften zeigte.

      Eduard wollte ihn deshalb auf eine etwas unverfänglichere Lektüre bringen, die er in verschiedenen Passagen dennoch seltsam geheimnisvoll und irgendwie anrührend fand. Robert Burton, selbst prominentes Opfer der „englischen Krankheit“, unternahm darin den Versuch, Ursachen, Symptome und auch die Möglichkeiten der Heilung einer der – wie er sagt – schwersten Krankheiten der Menschheit darzulegen, der Melancholie. Beinahe nebenbei fand er auch noch Raum und Zeit zur Beurteilung und Kommentierung verschiedenster Entwicklungen beispielsweise in der Astronomie, in Gesellschaft und Klerus seiner Zeit.

      Eduard hatte seinen Bruder immer für den emotionaleren, vielleicht auch labileren, für spirituelle Erfahrungen anfälligeren und auch leichtfertigeren von ihnen beiden gehalten. Er war schnell zu begeistern, doch oftmals hielt diese Euphorie nicht lange an. Er selbst, so sagte Eduard sich, war von dem Buch amüsiert gewesen. Für ihn war es eine nette Unterhaltung und nur von Nutzen, um die Sichtweise der Menschen vor 250 Jahren vielleicht etwas besser verstehen zu können. Manchmal war er überrascht gewesen von der Nüchternheit und Weitsicht, mit der Burton über bestimmte Dinge urteilte. Aber insgesamt hielt er die Anatomie lediglich für einen Zeitvertreib. Bei Hans war er da nicht so sicher. Vielleicht würden einige Ideen oder Anregungen aus dem Buch bei ihm auf fruchtbaren Boden fallen … Und er war einige Zeit abgelenkt von seinen eher radikalen politischen Ideen, die er mit Simon Mandelbaum spann. Als wären sie noch Kinder …

      Als Eduard den Salon betrat, blickte Hans auf und legte das Buch zur Seite. Es hatte den Anschein, als habe er gar nicht gelesen, sondern mit dem Buch in der Hand vor sich hingedöst. Doch jetzt setzte er sich rasch auf und war hellwach.

      „Endlich“, rief er. „Du warst lange weg …“

      „Nun ja.“ Eduard schmunzelte. „Es ist noch nicht Mitternacht.“

      „Trotzdem“, erwiderte Hans. „Setz dich. Wie war es? Willst du etwas trinken? Hast du Hunger? Es hat noch kalten Braten in der Küche. Ich kann Maria holen … Oder ich schneide dir selbst ein Stück ab. Ein Glas Wein?“

      Eduard hob die Hände, wie um den Wortschwall seines Bruders abzuwehren.

      „Hans“, rief er. „Hans … Hör auf.“ Er lachte. „Ich setze mich. Und ja, ich nehme ein Glas Wein. Und keine Sorge, ich werde dir alles berichten. Aber vielleicht …“ Er sah sich in dem nur spärlich beleuchteten Raum um. „Ist Vater noch wach?“

      Hans schüttelte den Kopf, während er für Eduard an der Anrichte ein Glas füllte. Dann füllte er auch sein eigenes und brachte beide zum Couchtisch.

      „Er ist schon vor einer Stunde oder mehr zu Bett gegangen“, sagte er.

      Beide setzten sich und nahmen einen Schluck.

      „Jetzt schieß schon los“, sagte Hans irgendwann, als Eduard keine Anstalten machte, zu berichten.

      „Nun ja, was soll ich sagen?“ Auf einmal fühlte Eduard sich unwohl in seiner Haut. Ja, wirklich. Was sollte er sagen? Dass es ihm eigentlich ganz gut gefallen hatte? Dass einige merkwürdige Leute da gewesen waren? Aber zum Beispiel auch der von Hans hochverehrte Professor Nehringer? Sollte er die Erwartungshaltung seines Bruders bedienen oder sich zu später Stunde noch auf eine Konfrontation einlassen? Er betrachtete Hans, dessen schmales, jugendliches Gesicht im Schein des gedämpften Lichts noch jünger wirkte. Er hatte sich nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und blickte Eduard erwartungsvoll an. Über seinen Lippen war ein spärlicher Flaum zu sehen, erste zarte Anzeichen eines Bartes. Sein Gesicht war weicher, die Wangenknochen nicht ganz so ausgeprägt wie bei Eduard oder ihrem Vater.

      „Den Vortrag hat ein gewisser Kurt Weidenmann gehalten“, sagte er. „Er war an einer oder mehreren Expeditionen in Deutsch-Ostafrika beteiligt und hat davon berichtet.“

      „Wie ist der Raum?“, fragte Hans, ohne im Mindesten auf Eduards Worte einzugehen. „Was für Leute verkehren dort? Hast du Bekannte getroffen?“

      Eduard seufzte.

      „Ach, Hans. Was willst du denn hören? Wirklich … Du erwartest, dass alles ganz genau so ist, wie du und Simon sich das immer ausmalen, nicht wahr? Geistige Brandstifter, sozialistenfressende Nationalisten und kapitalistische Ausbeuter, die sich in dunklen Salons gegen das freiheitliche Gedankengut verschwören … Einen nach dem anderen ziehen sie in ihren Bann.“ Er hielt einen Moment inne. „Aber so ist es nicht. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht.“

      „Na, hör mal“, rief Hans. „Du warst doch immer unserer Meinung. Und jetzt?“

      „Jetzt war ich dort“, entgegnete Eduard. „Und ja, ich habe ein paar Bekannte getroffen.“ Einen Moment lang zog er wieder in Erwägung, Professor Nehringer zu erwähnen. Aber, aus keinem bestimmten Grund, behielt er sich das lieber für später vor. „Es ist nicht so, wie du denkst.“

      „So?“ Hans warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Wie ist es denn?“

      „Der Vortrag war interessant. Es ging um die Kolonien, was für ein Potenzial für unser Land dort schlummert.“ Eduard dachte einen Moment lang nach. „Natürlich ist nicht alles ideal. Es gibt Probleme mit den Eingeborenen, mit verschiedenen Nationen, die Einfluss nehmen wollen. Das Gebiet ist umstritten, wird reklamiert von Wilden, den Engländern … Darum ging es in der Hauptsache.“

      „Dir ist aber schon klar, dass die Kolonien der Regierung hauptsächlich zur Ausbeutung dienen, oder?“, fragte Hans kühl. „Ganz zu schweigen von Männern wie Carl Peters, die skrupellos und ohne Rücksicht auf Verluste ihre persönliche Bereicherung vorantreiben.“

      Eduard nickt nachdenklich.

      „Das ist schon wahr“, sagte er und verschwieg auch, dass beinahe alle Anwesenden Carl Peters uneingeschränkte Bewunderung entgegengebracht hatten. „Aber sie alle glauben auch, dass die Gebiete dem Reich auf lange Zeit großen Wohlstand bringen werden. Und dass auch die Kolonien davon profitieren.“

      Hans СКАЧАТЬ