„Wir zählen auf Sie nächsten Dienstag“, sagte die Gräfin zu La Faloise. Sie lud Fauchery ein, der sich verneigte.
Von dem Stück wurde überhaupt nicht gesprochen; Nanas Name wurde nicht erwähnt. Der Graf wahrte eine so eisige Würde, daß man glauben konnte, er sei auf irgendeiner Sitzung des Corps législatif. Um ihre Anwesenheit zu erklären, sagte er bloß, sein Schwiegervater liebe das Theater. Die Logentür hatte offenbleiben müssen; der Marquis de Chouard, der hinausgegangen war, um seinen Platz den Besuchern zu überlassen, richtete seine Greisengestalt mit dem weichen, weißen Gesicht unter einem Hut mit breiter Krempe hoch auf und blickte mit seinen schwachen Augen den Frauen nach, die vorübergingen.
Sobald die Gräfin ihre Einladung ausgesprochen hatte, verabschiedete sich Fauchery, da er fühlte, daß es unpassend sei, über das Stück zu sprechen. La Faloise verließ die Loge als letzter. Er hatte eben in der Proszeniumsloge des Grafen de Vandeuvres den blonden Labordette bemerkt, der sich dort kurzerhand niedergelassen hatte und sich vertraulich mit Blanche de Sivry unterhielt.
„Also, hör mal“, sagte er, sobald er seinen Vetter eingeholt hatte, „dieser Labordette kennt wohl alle Frauen, was? — Jetzt ist er da bei Blanche.“
„Aber natürlich kennt er sie alle“, antwortete Fauchery seelenruhig. „Wo kommst du eigentlich her mein Lieber?“
Der Gang war etwas leerer geworden. Fauchery wollte gerade hinuntergehen, als Lucy Stewart ihn rief. Sie stand ganz hinten vor der Tür ihrer Proszeniumsloge. Da drinnen schmore man, sagte sie; und in Gesellschaft von Caroline Héquet und ihrer Mutter, die gebrannte Mandeln knabberten, nahm sie die ganze Breite des Korridors ein. Eine Logenschließerin plauderte mütterlich mit ihnen. Lucy zankte den Journalisten aus: er sei nett, er komme herauf und besuche die anderen Frauen und er erkundige sich nicht einmal danach, ob sie Durst hätten! Dann ließ sie dieses Thema fallen und sagte: „Weißt du, mein Lieber, ich finde, Nana sieht sehr gut aus.“
Sie wollte, daß er für den letzten Akt in der Proszeniumsloge blieb; doch er entwischte, indem er versprach, sie alle am Ausgang abzuholen.
Unten vor dem Theater zündeten sich Fauchery und La Faloise eine Zigarette an. Ein Auflauf versperrte den Bürgersteig, eine lange Reihe von Menschen, die die Freitreppe heruntergekommen waren und inmitten des abgeebbten Getöses des Boulevards die Kühle der Nacht einatmeten.
Mignon hatte inzwischen Steiner in das Café des Variétés mitgeschleppt. Da er Nanas Erfolg sah, hatte er begonnen, begeistert von ihr zu sprechen, wobei er den Bankier verstohlen von der Seite anblickte. Er kannte ihn; zweimal hatte er ihm geholfen, Rose zu betrügen. Dann hatte er ihn, als die kurze Liebschaft vorbei war, wieder reumütig und treu zurückgebracht. Im Café drängten sich die viel zu zahlreichen Gäste um Marmortische. Manche tranken überstürzt im Stehen; und die breiten Spiegel warfen dieses Gewimmel von Köpfen unendlich oft zurück und vergrößerten den engen Raum mit seinen drei Kronleuchtern, seinen Plüschbänken und seiner rot ausgeschlagenen Wendeltreppe ins Maßlose. Steiner ließ sich an einem Tisch im ersten Raum nieder, der nach dem Boulevard hin offen war und dessen Türen man ein bißchen früh für die Jahreszeit entfernt hatte. Als Fauchery und La Faloise vorbeigingen, hielt sie der Bankier an.
„Trinken Sie doch ein Bier mit uns.“
Doch ein Gedanke beschäftigte ihn unaufhörlich: er wollte Nana einen Blumenstrauß zuwerfen lassen. Schließlich rief er einen Kellner des Cafés, den er vertraulich Auguste nannte. Mignon, der zuhörte, sah ihn so offen an, daß er ganz verwirrt wurde und stammelte:
„Zwei Blumensträuße, Auguste, und geben Sie sie bei der Logenschließerin ab; einen für jede der Damen, im günstigen Augenblick, nicht wahr?“
Am anderen Ende des Raumes saß, den Nacken gegen den Rahmen eines Spiegels gelehnt, ein höchstens achtzehnjähriges Mädchen regungslos vor einem leeren Glas, wie erstarrt von langem und vergeblichem Warten. Unter den natürlichen Locken ihres schönen aschblonden Haars hatte sie ein jungfräuliches Gesicht mit sanften und unschuldigen Samtaugen; sie trug ein grünes, verschossenes Seidenkleid und einen runden Hut, den Ohrfeigen verbeult hatten. Von der Kühle der Nacht war sie ganz weiß.
„Sieh mal an, da sitzt Satin“, murmelte Fauchery, als er sie erblickte.
La Faloise fragte ihn aus. Oh, ein Straßenmädchen vom Boulevard, ganz unbedeutend. Aber sie habe eine solche Schandschnauze, daß man sich einen Spaß daraus mache, sie zum Reden zu bringen. Und mit erhobener Stimme fragte der Journalist:
„Was machst du denn da, Satin?“
„Ich kotze mich an“, antwortete Satin seelenruhig, ohne sich zu rühren.
Entzückt begannen die vier Männer zu lachen.
Mignon versicherte, sie brauchten sich nicht zu beeilen; für den Umbau zum dritten Akt benötige man zwanzig Minuten. Aber die beiden Vettern, die ihr Bier ausgetrunken hatten, wollten wieder hineingehen, ihnen wurde langsam kalt. Darauf stützte sich Mignon, der mit Steiner allein geblieben war, mit den Ellbogen auf und sprach ganz offen mit ihm:
„Na, abgemacht, wir gehen zu ihr, ich stelle Sie vor . . . Natürlich bleibt das unter uns, meine Frau braucht das nicht zu wissen.“
Als Fauchery und La Faloise auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, fiel ihnen in einer Loge des zweiten Ranges eine hübsche, bescheiden gekleidete Frau auf. Sie war in Begleitung eines gesetzt aussehenden Herrn, eines Bürovorstehers im Innenministerium, den La Faloise kannte, da er ihm bei den Muffats begegnet war. Fauchery seinerseits glaubte, sie heiße Madame Robert: eine anständige Frau, die einen Geliebten habe, nicht mehr, und immer einen achtbaren Mann.
Aber sie mußten sich umdrehen. Daguenet lächelte ihnen zu. Jetzt, da Nana Erfolg hatte, verbarg er sich nicht mehr; er hatte soeben auf den Gängen einen Triumph gefeiert. Neben ihm hatte der junge Wildfang seinen Sessel nicht verlassen, so betäubt war er vor Bewunderung, in die ihn Nana versetzt hatte. Das war es also, das war die Frau! Und er wurde ganz rot, mechanisch zog er seine Handschuhe an und wieder aus. Da sein Nachbar von Nana gesprochen hatte, wagte er ihn dann zu fragen:
„Verzeihung, mein Herr, kennen Sie die Dame vielleicht, die spielt?“
„Ja, flüchtig“, murmelte Daguenet überrascht und zögernd. „Dann kennen Sie ihre Adresse?“
Die an ihn gerichtete Frage fiel so unverblümt, daß er Lust hatte, sie mit einer Ohrfeige zu beantworten.
„Nein“, sagte er trocken. Und er kehrte ihm den Rücken zu.
Der blonde Jüngling begriff, daß er da etwas Unpassendes begangen hatte; er errötete noch mehr und blieb verstört sitzen.
Das dreimalige Klopfzeichen ertönte. Logenschließerinnen, die mit Pelzen und Mänteln beladen waren, wollten inmitten der hereinkommenden Menge unbedingt die Kleidungsstücke zurückgeben. Die Claque beklatschte das Bühnenbild: eine Grotte des Berges Ätna, die in eine Silbermine gegraben war und deren Wände wie neue Taler funkelten; die Schmiede Vulkans im Hintergrund sah aus wie ein Sonnenuntergang. Schon in der zweiten Szene einigte sich Diana mit dem Gott, der eine Reise vortäuschen sollte, um das Feld für Venus und Mars zu räumen. Kaum war Diana dann allein, erschien Venus. Ein Schauer erregte den Zuschauerraum. Nana war nackt. Sie war nackt mit gelassener Verwegenheit, der Allmacht ihres Fleisches gewiß. Lediglich ein Flor hüllte sie ein; ihre runden Schultern, ihre amazonenhaften Brüste, deren rosige Spitzen aufrecht und starr wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die in wollüstigem Wiegen rollten, ihre Schenkel einer üppigen Blondine, ihr ganzer Leib war unter dem leichten schaumweißen СКАЧАТЬ