Название: Das einfache Leben
Автор: Ernst Wiechert
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Klassiker bei Null Papier
isbn: 9783962817909
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Der Weg führte über eine Brücke, die sich hoch und weit über Schienenstränge spannte. Im Osten erloschen die Lichter allmählich in der Nacht, und er sah die Fernzüge hineinbrausen in die schweigende Schwärze, die schon über Äckern und Wäldern stand. Im Westen aber schoben die Signale sich dicht zusammen, weiße, rote und grüne Lichter, wie in einer Hafeneinfahrt. Ein leiser Wind ging über seine Hände, die auf dem kalten Eisen des Geländers lagen, und es war nun alles wieder wie vor fremden Küsten, mit halbgelöschten Feuern, wo man nach trügerischen Lichtsektoren steuerte und der Tod, schweigend, aber wachsam, unter den Sternen hing.
Dann saß er auf dem Verdeck eines Autobus. Die Lichtreklamen wurden zahlreicher, wilder und gehetzter, die Straßen belebten sich, Portiers standen wie Könige in Marmoreingängen, und über die Köpfe der Menge hoben sich farbige Arme mit Zeitungen, und heisere Stimmen schrien die Ernte des Tages aus, die Kurse, die Morde, die Streiks, die Revolutionen.
Thomas stieg aus und ließ sich treiben. Die Menge schluckte ihn auf wie der Strom einen Tropfen. Krüppel kauerten an den Gittern der Vorgärten, und ihre eintönigen Verse fielen wie stumpfe Messer in die Menge. Geld klirrte, und die meisten Hände fuhren schnell zurück, als hätten sie sich losgekauft von dem steinernen Antlitz des Krieges, das immer noch über die Dächer hinunterstarrte. Die breiten Hüte der Heilsarmee tauchten ab und zu aus lichtüberfluteten Eingängen auf, und die Gesichter darunter blickten still und wie entrückt, als hätten sie schon auf der Schwelle Hohn oder Mitleid abgestreift, die sie dort innen empfangen hatten.
Einen Augenblick lang lächelte Thomas, als ihm der Gedanke kam, was sie für Gesichter machen würden, wenn er zu Hause als Offizier dieser Heilstruppe erscheinen würde. Thomas, der Leutnant Gottes. Gott war fortgegangen, aber die Propheten kamen. Aus allen Kellerhöhlen stiegen sie empor, auf den Tribünen hoben sie die nackten, verzehrten Arme, in den Parlamenten beschworen sie das Reich der Liebe, aus den Sternen rissen sie Weisheit und Schicksal: aber der Engel war fort, der einzige, der die Lose trug und wusste.
Ein Polizist mit weißen Handschuhen sperrte die Kreuzung. Jemand rief Thomas an, und er trat unlustig an den haltenden Wagen. Ein Kamerad von seinem letzten Schiff, und er rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. Aber Thomas schüttelte den Kopf. Nein, eine Bar sei nichts für ihn, er wolle noch in der frischen Luft bleiben. Was er denn treibe? O … nichts … er warte. Der andere lächelte: »Solltest zu mir auf die Bank kommen, Thomas«, sagte er. »Geld wird dort verdient, sage ich dir, und das Ganze ist so wie ein Nachtgefecht. Du weißt nie, wie du herauskommst, aber wenn du herauskommst, hat es gelohnt. Soll ich dir einen Tipp geben, Thomas? Macht mehr aus als deine Pension für ein Jahr!«
Nein, auch dafür dankte Thomas. Die Straße wurde frei, und der Wagen fuhr langsam an. »Mach’s gut, Thomas! Bis zum nächsten Orlog …«
Eine Weile blickte er dem Wagen nach, dann bog er die nächste Straße zur Stadtbahn ein. Ihn verlangte plötzlich, den Strom zu sehen, dunkles Wasser, in dem die Masten sich spiegelten und über dem die Sterne standen. Nein, der Erfolg konnte nicht das Letzte sein. Auch Spieler hatten Erfolg, aber ihr Leben ging nicht in die Bücher ein, aus denen Kinder lernen, wie man leben soll. Ein guter Offizier war jener gewesen und ein guter Kamerad, aber wenn man die Uniform auszog, musste man wohl mehr sein als dies. Das Leben verlangte mehr, als ein Kriegsschiff verlangt. Ungewissheit überfiel ihn wieder, und im Augenblick dachte er, dass es gut sein müsste, Adressen zu schreiben oder Pakete auszutragen, irgendetwas, das das Blut in den Fingern bewegen würde. Es gab keine Feierjahre für junge Hände.
Er blieb an einem Blumenladen stehen und starrte auf die Gläser mit Treibhausflieder. Wenn ich geschossen hätte, grübelte er, so würden sie mich erschlagen haben und alles würde gut sein … eine Sekunde versäumt, nein, eine halbe Sekunde … die Entscheidung verpasst, das ist es, weshalb der Engel nicht kommt …
In der Stadtbahn saß ein alter Mann ihm gegenüber, der auf ein Blatt Papier starrte, das mit Kreisen und Zeichen bedeckt war. Sein Haar fiel bis zum Rockkragen, und seine Füße steckten in wunderlichen, vielfach geflickten Reformschuhen. Wie reich und geduldig ist diese Zeit, dachte Thomas. Sollte sie nicht auch für mich einen Platz und ein Ziel haben? Man muss nur warten, bis die Magnetnadel zu beben beginnt …
Der Mann sah seufzend auf und blickte Thomas an. Er hatte gute Augen, von einem etwas wässerigen Braun, leise erstaunt und viel geprüft, und Thomas dachte, dass eine Kuh so vor sich hinsehen könnte, wenn sie außer der Reihe gemolken würde. Doch missfiel ihm der Vergleich sofort, und er tadelte sich, dass er so über Menschen urteile.
Doch da hob der Mann den Zeigefinger der rechten Hand und sagte flüsternd: »Steinbock, nicht wahr? Dreiundzwanzigsten Dezember bis dreiundzwanzigsten Januar, ja?«
Aber Thomas vergaß seine guten Vorsätze über dem Formlosen und Vertraulichen der Ansprache. »Nein«, erwiderte er schroff und wechselte den Platz.
Der Sternkundige stieg an der nächsten Haltestelle aus, und als er die Türen öffnete, beugte er sich ohne Kränkung zu Thomas und flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: »Die Knie sind bedenklich beim Steinbock … sehr gefährlich … immer schön auf die Knie achten, mein Herr!« Er lächelte freundlich, hob noch einmal mahnend den Zeigefinger und verschwand.
Die Straße senkte sich leicht zum Strom, und als Thomas die Stufen zum Bollwerk hinunterschritt, dachte er an seine Knie und lächelte. Dann ging er langsam am Wasser entlang.
Die Flut zog dunkel und träge dahin, mit zitternden Sternbildern, die auf der gleichen Stelle verharrten. Kähne lagen an der Mauer vertäut, die Deckplanken glänzten, und die Bordlaternen leuchteten über Tauwerk und Holz. Mitunter bellten die Wachhunde, zuerst einzeln und dann den ganzen Strom entlang. Dann war nur wieder das Wasser zu hören und der leichte Wind, der durch das Geäst der Birken zog.
»Wasser СКАЧАТЬ