Название: Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte
Автор: Kurt Tucholsky
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159617787
isbn:
Und dann die Altstimme. Ich habe sie einmal nachts geweckt, und, als sie aufschrak: »Sag etwas!«, bat ich. »Du Dummer!«, sagte sie. Und schlief lächelnd wieder ein. Aber ich hatte die Stimme gehört, ich hatte ihre tiefe Stimme gehört.
Und das dritte war das Missingsch. Manchen Leuten erscheint die plattdeutsche Sprache grob, und sie mögen sie nicht. Ich habe diese Sprache immer geliebt; mein Vater sprach sie wie hochdeutsch, sie, die »vollkommnere der beiden Schwestern«, wie Klaus Groth sie genannt hat. Es ist die Sprache des Meeres. Das Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man will, herrlich besoffen. Die Prinzessin bog sich diese Sprache ins Hochdeutsche um, wie es ihr passte – denn vom Missingschen gibt es hundert und aber hundert Abarten, von Friesland über Hamburg bis nach Pommern; da hat jeder kleine Ort seine Eigenheiten. Philologisch ist dem sehr schwer beizukommen; aber mit dem Herzen ist ihm beizukommen. Das also sprach die Prinzessin – ah, nicht alle Tage! Das wäre ja unerträglich gewesen. Manchmal, zur Erholung, wenn ihr grade so zu Mut war, sprach sie missingsch; sie sagte darin die Dinge, die ihr besonders am Herzen lagen, und daneben hatte sie im Lauf der Zeit schon viel von Berlin angenommen. Wenn sie ganz schnell »Allmächtiger Braten!«, sagte, dann wusste man gut Bescheid. Aber mitunter sprach sie doch ihr Platt, oder eben jenes halbe Platt: missingsch.
Das weiß ich noch wie heute … Das war, als wir uns kennenlernten. Ich war damals zum Tee bei ihr und bot den diskret lächerlichen Anblick eines Mannes, der balzt. Dabei sind wir ja rechtschaffen komisch … Ich machte Plüschaugen und sprach über Literatur – sie lächelte. Ich erzählte Scherze und beleuchtete alle Schaufenster meines Herzens. Und dann sprachen wir von der Liebe. Das ist wie bei einer bayerischen Rauferei – die raufen auch erst mit Worten.
Und als ich ihr alles auseinandergesetzt hatte, alles, was ich im Augenblick wusste, und das war nicht wenig, und ich war so stolz, was für gewagte Sachen ich da gesagt hatte, und wie ich das alles so genau und brennendrot dargestellt und vorgeführt hatte, in Worten, so dass nun eigentlich der Augenblick gekommen war, zu sagen: »Ja, also dann …« – da sah mich die Prinzessin lange an. Und sprach:
»Einen weltbefohrnen dschungen Mann –!« Und da war es aus. Und ich fand mich erst viel später bei ihr wieder, immer noch lachend, und mit der erotischen Weihe war es nichts geworden. Aber mit der Liebe war es etwas geworden.
Der Zug hielt.
Die Prinzessin fuhr auf, öffnete die Augen. »Wo sind wir?« – »Es sieht aus wie Stolp oder Stargard – jedenfalls ist es etwas mit St«, sagte ich. »Wie sieht es noch aus?«, fragte sie. »Es sieht aus«, sagte ich und blickte auf die Backsteinhäuschen und den trübsinnigen Bahnhof, »wie wenn hier die Unteroffiziere geboren werden, die ihre Mannschaften schinden. Möchtest du hier Mittag essen?« Die Prinzessin schloss sofort die Augen. »Lydia«, sagte ich, »wir können auch im Speisewagen essen, der Zug hat einen.« – »Nein«, sagte sie. »Im Speisewagen werden die Kellner immer von der Geschwindigkeit des Zuges angesteckt, und es geht alles so furchtbar eilig – ich habe aber einen langsamen Magen …« – »Gut. Was liest du da übrigens, Alte?« – »Ich schlafe seit zwei Stunden auf einem mondänen Roman. Der einzige Körperteil, mit dem man ihn lesen kann …«, und dann machte sie die Augen wieder zu. Und wieder auf. »Guck eins … die Frau da! Die is aber misogyn!« – »Was ist sie?« – »Misogyn … heißt das nicht miekrig? Nein, das habe ich mit den Pygmäen verwechselt; das sind doch diese Leute, die auf Bäumen wohnen … wie?« Und nach dieser Leistung entschlummerte sie aufs Neue, und wir fuhren, lange, lange. Bis Warnemünde.
Da war der ›Strom‹. So heißt hier die Warne – war es die Warne? Peene, Swine, Dievenow … oder hieß der Fluss anders? Es stand nicht dran. Mit Karlchen und Jakopp hatte ich der Einfachheit halber erfunden, jeder Stadt den ihr zugehörigen Fluss zu geben: Gleiwitz an der Gleiwe, Bitterfeld an der Bitter und so fort.
Hier am Strom lagen lauter kleine Häuser, eins beinah wie das andre, windumweht und so gemütlich. Segelboote steckten ihre Masten in die graue Luft, und beladene Kähne ruhten faul im stillen Wasser. »Guck mal, Warnemünde!«
»Diss kenn ich scha denn nu doch wohl bisschen besser als du. Harre Gott, nein … Da ische den Strom, da bin ich sozusagen an groß gieworn! Da wohnt scha Korl Düsig un min oll Wiesendörpsch, und in das nüdliche lütte Haus, da wohnt Tappsier Kröger, den sind solche netten Menschen, as es auf diese ausgeklürte Welt sons gahnich mehr gibt … Und das is Zenater Eggers sin Hus, Dree Linden. Un sieh mal: das alte Haus da mit den schönen Barockgiebel – da spükt es in!« – »Auf plattdeutsch?«, fragte ich. »Du büschan ganzen mongkanten Mann; meins, den Warnemünder Giespenster spüken auf hochdeutsch rum – nee, allens, was Recht is, Ordnung muss sein, auch inne vierte Dimenzion …! Und …« Rrrums – der Zug rangierte. Wir fielen aneinander. Und dann erzählte sie weiter und erklärte mir jedes Haus am Strom, soweit man sehen konnte.
»Da – da is das Haus, wo die alte Frau Brüshaber in giewohnt hat, die war eins so fühnsch, dass ich ’n bessres Zeugnis gehabt hab als ihre Großkinder; die waren ümme so verschlichen … und da hat sie von ’n ollen Wiedow, dem Schulderekter, gesagt: Wann ick den Kierl inn Mars hat, ick scheet em inne Ostsee! Un das Haus hat dem alten Laufmüller giehört. Den kennst du nich auße Weltgeschichte? Der Laufmüller, der lag sich ümme inne Haaren mit die hohe Obrigkeit, was zu diese Zeit den Landrat von der Decken war, Landrat Ludwig von der Decken. Und um ihn zu ägen, kaufte sich der Laufmüller einen alten räudigen Hund, und den nannte er Lurwich, und wenn nu Landrat von der Decken in Sicht kam, denn rief Laufmüller seinen Hund: Lurwich, hinteh mich! und denn griente Laufmüller so finsch, und den Landrat ärgerte sich … un davon haben wi auch im Schohr 1918 keine Revolutschon giehabt. Ja.« – »Lebt der Herr Müller noch?«, fragte ich. »Ach Gott, neien – he is all lang dod. Er hat sich giewünscht, er wollt an Weg begraben sein, mit dem Kopf grade an Weg.« – »Warum?« – »Dscha … dass er den Mächens so lange als möchlich untere Röck … Der Zoll!« Der Zoll.
Europa zollte. Es betrat ein Mann den Raum, der fragte höflichst, ob wir … und wir sagten: nein, wir hätten nicht. Und dann ging der Mann wieder weg. »Verstehst du das?«, fragte Lydia. »Ich versteh es nicht«, sagte ich. »Es ist ein Gesellschaftsspiel und eine Religion, die Religion der Vaterländer. Auf dem Auge bin ich blind. Sieh mal – sie können das mit den Vaterländern doch nur machen, wenn sie Feinde haben und Grenzen. Sonst wüsste man nie, wo das eine anfängt und wo das andre aufhört. Na, und das ginge doch nicht, wie …?« Die Prinzessin fand, dass es nicht ginge, und dann wurden wir auf die Fähre geschoben.
Da standen wir in einem kleinen eisernen Tunnel, zwischen den Dampferwänden. Rucks – nun wurde der Wagen angebunden. »Wissen möcht ich …«, sagte die Prinzessin, »warum ein Schiff eigentlich schwimmt. Es wiegt so viel: es müsste doch untergehn. Wie ist das! Du bist doch einen studierten Mann!« – »Es ist … der Luftgehalt in den Schotten … also pass mal auf … das spezifische Gewicht des Wassers … es ist nämlich die Verdrängung …« – »Mein Lieber«, sagte die Prinzessin, »wenn einer übermäßig viel Fachausdrücke gebraucht, dann stimmt da etwas nicht. Also du weißt es auch nicht. Peter, dass du so entsetzlich dumm bist – das ist schade. Aber man kann ja wohl nicht alles beieinander haben.« Wir wandelten an Bord.
Schiffslängs – backbord – steuerbord … ganz leise arbeiteten die Maschinen. Warnemünde blieb zurück, unmerklich lösten wir uns vom Lande. Vorbei an der Mole – da lag die Küste.
Da lag Deutschland. Man sah nur einen flachen, bewaldeten Uferstreifen und Häuser, Hotels, die immer kleiner wurden, immer mehr zurückrückten, und den Strand … War dies eine ganz leise, winzige, eine СКАЧАТЬ