EMOTION CACHING. Heike Vullriede
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Название: EMOTION CACHING

Автор: Heike Vullriede

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783958350632

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      »Warum nehmen Sie nicht einfach die Treppe, junge Frau?«

      Sehr witzig! Natürlich hätte sie auch die komfortabel in den Wald gehauene Treppe zur Burgruine nehmen können. Und natürlich war dieser Felsen nicht zum Klettern gedacht. Wie eine augenzwinkernde Herausforderung hatte sie Kim angelacht, diese Wand … das perfekte Versteck für ihren Schatz, den sie in ihrer Hosentasche aufbewahrte – eine Plastikdose, kaum 10 mal 15 Zentimeter groß, mit einer Münze und einem Minilogbuch darin – ein ›Geocache‹. Die anderen Schatzsucher sollten ihn anhand von Koordinaten suchen, finden, sich im Logbuch der Dose verewigen und den Cache im Internet bewerten. Nur ein Spiel.

      Ganz so einfach wollte Kim es den anderen Schatzsuchern aber nicht machen. Sie wäre nicht Kim gewesen, hätte sie sich nicht ein besonders schwer zu erreichendes Versteck ausgedacht. Doch so schwierig, wie es sich jetzt gestaltete, hatte sie sich das selbst nicht vorgestellt. Der Felsen, den sie für das Verbergen ihres Schatzes ausgesucht hatte, machte heftige Anstalten, Kim auszuspucken.

      Ein weiterer Blick nach unten. Das Crashpad – die Matte, die sie am Fuß der Formation zum Schutz vor einem Sturz ausgebreitet hatte – sah nun doch kleiner aus, als es Kim lieb war.

      Was soll's. Sie hatte schließlich schon Schlimmeres gemeistert. Immer Schritt für Schritt, dann würde sie schon irgendwie weiterkommen und wenn nicht – runter kam man schließlich immer.

      Mit einem Schuh versuchte sie, die verlockend aussehende Mulde schräg oberhalb ihrer Hüfte zu erreichen, was eine unglaubliche Grätsche erforderte. Wie es nach der Grätsche weitergehen sollte, war ihr zwar ein Rätsel, denn die Kraft aufzubringen, aus dieser Körperhaltung heraus weiter zu klettern, schien ihr nahezu unmöglich. Sie hätte ein Gummimensch sein müssen, um das zu schaffen. Aber seit wann machte sie sich schon Sorgen um ein Danach? Nur ein paar Zentimeter noch … die Zehen spreizten sich unnütz in der Schuhspitze zwischen Leder und Sohle, als könnten sie das Bein auf diese Weise um die fehlende Distanz verlängern. Ihre Oberschenkelsehnen dehnten sich wie die Saiten einer schrillen Geige und Kim war sicher, die geringste Vibration würde sie mit einem dreigestrichenen Cis zerreißen.

      Als es ihr endlich gelang, die Fußspitze in der Mulde zu platzieren, erwies sich diese als zu schlüpfrig. Wahrscheinlich war sie mit Moos ausgekleidet – aber noch eher mit einer guten Ladung Pech … von den Racheengeln da oben. Resigniert brachte sie den Fuß in die Ausgangsposition zurück und klammerte sich fester an die winzigen Felsvorsprünge über ihr, an denen sich ihre Hände durch das ständige Nachfassen allmählich aufscheuerten.

      Verdammt! Kim keuchte. Jedes ihrer verkrampften Fingerglieder schmerzte. Ein paar Minuten Kraft zu schöpfen, ohne gegen die Schwerkraft ankämpfen zu müssen, das hätte ihr schon viel gebracht. Doch ihr blieb lediglich ein kurzes Verharren mit der Stirn dicht am Felsen. Sie hatte sich verschätzt und es völlig übertrieben – wieder einmal –, als ob sie es mit ihren sechzehn Jahren nicht endlich mal lernen konnte.

      Auch die beiden Weißhaarigen sahen von oben betrachtet recht winzig aus. Der Witz mit der Treppe war so alt, wie das Klettern selbst, und ihre Klugscheißerei erinnerte Kim jetzt dummerweise erneut an Robert. Diesen neuen Kerl ihrer Mutter, der meinte, ihr ständig ungefragt Ratschläge fürs Leben geben zu dürfen. Ihr, der ungekrönten Königs-Regisseurin zahlreicher böser kleiner Filmchen. Der sollte nur aufpassen, dass er sich nicht in einem dieser Filme wiederfand. Irgendetwas Lächerliches an ihm würde sich schon finden lassen.

      Robert war ein Fremdkörper, der sich seit einem Jahr in ihrem Zuhause ausbreitete wie ein Riesenkrake. Überall hinterließen seine Tentakeln Schleimspuren falscher Nettigkeit, Gerüche und Gedanken, die sie erstickten, sogar bis in diese Wand hinein. Das Schlimmste – er hatte mit seinen blöden Ratschlägen fast immer recht. Kim sah seine nachsichtig grinsende Fresse vor sich, daneben unwillkürlich das Bild ihres verschollenen Vaters, und wünschte, Robert stünde genau jetzt neben ihr im Felsen, damit sie ihn mit einem kleinen Schubs ins Jenseits befördern könnte. Es hätte ihr nichts ausgemacht, sein altes Skelett knacken zu hören … absolut nichts. Schade nur, dass er so gut gepolstert war; ihre Ohren hätten wohl mehr ein Klatschen als ein Knacken vernommen.

      »Sie dürfen ruhig weiter schlendern. Dann finden Sie vielleicht sogar einen Sessellift für ihre morschen Knochen«, schrie sie nach unten … und dann ließ ihre Konzentration endgültig nach. Ihre Schuhe rutschten, sie korrigierte. Angst? Nein. Seltsam, auch diesmal verspürte sie nicht die Angst, die angemessen gewesen wäre. Respekt vor der drohenden Absturzgefahr? – das ja. Kim wusste, es half nur noch ein verdammt klarer Kopf.

      Warum ziehst du auch ohne richtige Ausrüstung los? Vor allem musste sie Roberts Großmaul aus ihrem Hirn verbannen. Mit diesem Kerl im Kopf würde das mit der Konzentration ganz sicher nichts.

      Da sich ein Absprung aus dieser Höhe verbot und wenn ein gefahrloser Abstieg ebenso wenig möglich war, musste sie sich eben durch eine Flucht nach oben retten – wie schon so oft in ihrem Leben. Das konnte ja nicht verkehrt sein. Sie packte links etwas fester zu und ließ ihren rechten Arm für einen Augenblick nach unten hängen, damit das einströmende Blut die Hand wieder etwas geschmeidiger machte.

      Kurz bevor die Fingerspitzen der Linken in der lehmbeschmierten Wand endgültig den Halt verloren, nahm sie Schwung und versuchte ihr Glück, indem sie weit nach oben griff … zu weit. Eine Felskante ließ sich zwar greifen, dafür zwang ihr viel zu gestreckter Körper die Fersen nach oben und sie rutschte weg … gnadenlos, unaufhaltsam … bekam auf dem schmerzhaften Weg nach unten nichts zu fassen … schwor sich, das nächste Mal wirklich einen Helm zu tragen … prallte mit dem Hintern auf einem gut bemoosten Felsvorsprung auf … stürzte tiefer, hörte die Wanderer aufschreien, stieß sich die Knie blutig, schürfte sich die Arme auf … und kam auf der luftgepolsterten Matte zum Liegen.

      Es dauerte eine Weile, bis Kim sich sicher war, noch zu leben. Sie setzte sich stöhnend auf und glaubte, sich mindestens das Rückgrat und alle Rippen gebrochen zu haben. Vorsichtig befühlte sie ihren Kopf. Irgendwo von fern redeten die beiden Alten auf sie ein. Im Rauschen ihrer Sinne hörte sie es kaum, dafür die imaginäre Stimme Roberts: Mädchen – so was unternimmt man doch nicht allein! Und schon gar nicht ohne Helm!

      Danke auch, Robert! Ohne deine Visage vor Augen wäre ich nicht mal gestürzt!

      Der linke Ellenbogen schmerzte höllisch. Doch je länger sie Haut und Kleidung von Lehm und Grünzeug befreite und sich auf äußere Verletzungen hin untersuchte, desto erstaunter stellte Kim fest, wie wenige Schrammen sie davon getragen hatte. Es war noch mal gut gegangen – wie jedes Mal, wenn sie sich fragen musste, warum sie sich in solch eine Lage gebracht hatte. Einzig ihr linker Ellenbogen machte ihr wirklich Sorgen. Der Unterarm knickte weg – allerdings in eine verkehrte Richtung. Das sah nicht gut aus …

      ***

      »Und wie hast du das Crashpad wieder mit nach Hause gekriegt?«, fragte Nico, während er Kim mit rotem Edding unaufgefordert eine Karikatur von den Huberbuam auf den Gips zeichnete, obwohl er beteuert hatte, sich lediglich mit einer Signatur zu verewigen.

      Typisch Nico – total naiv und doch hinterfotzig, dachte sie. Sie musterte ihn, bei sich zu Hause auf dem Esstischstuhl sitzend, den schweren Gipsverband auf dem Tisch. Seine Mundwinkel spielten synchron zu seinen Zeichenbewegungen; dass er sich nicht wie ein Kind mit der Zunge um den extrem breiten Mund fuhr, wunderte sie. Nicos Anblick legte dem Beobachter den Gedanken nahe, der Junge bestünde hauptsächlich aus diesem riesigen Mund, der fast immer lachte – was ihn durchaus sympathisch machte, weshalb man ihn aber auch unter dem wenig schmeichelhaften Spitznamen Hackfresse kannte. Sogar seine Brüder nannten ihn so, und davon hatte er sechs. Er war der Einzige aus ihrer vierköpfigen Clique, der es bisher mit einer Ausbildung versucht hatte. СКАЧАТЬ