Der Islam. Malise Ruthven
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Название: Der Islam

Автор: Malise Ruthven

Издательство: Bookwire

Жанр: Религия: прочее

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isbn: 9783159618050

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СКАЧАТЬ von etwas, das manchmal als »Facebook-Revolution« des Nahen Ostens bezeichnet wird. Das Verhältnis zwischen zwei gesellschaftlichen Kräften – der ländlichen oder erst seit kurzem urbanisierten Bevölkerung, die meist an den traditionellen Normen des Islam festhält, auf der einen Seite und der Generation der Absolventen höherer Schulen und Universitäten, die sich mehr an säkularen Werten orientieren, auf der anderen Seite – scheint sich derzeit zugunsten der letzteren zu verschieben. Unlängst wies eine Studie auf den markanten Schwund an Religiosität in der arabischen Welt hin. Der Anteil von Menschen, die von sich behaupten, nicht religiös zu sein, stieg von 11 Prozent in den Jahren 2012–14 auf 18 Prozent im Jahr 2019. Diese Entwicklung ist vermutlich das genaue Gegenteil zur wachsenden Religiosität vieler Muslime in der westlichen Diaspora, wo Überzeugungen, die mit dem Salafismus in Verbindung stehen (wie etwa die Verschleierung und das Tragen von Bärten), als [40]Identitätsmerkmale innerhalb der zweiten und dritten Generation muslimischer Einwanderer ständig an Bedeutung zunehmen. Es sind aber auch anti-islamistische Tendenzen erkennbar, und zwar vor allem dort, wo die islamistischen Strömungen mit der Ausübung von Gewalt und Macht einhergingen. Der bereits genannten Studie zufolge ist das Vertrauen in die islamistischen Bewegungen wie etwa die Hamas, Hisbollah und Muslimbruderschaft noch geringer geworden als das in die religiösen Oberhäupter. In Tunesien etwa ist das Zutrauen zur Bruderschaft und ihre Anhänger seit 2011 um 24 Prozent gesunken, in Jordanien um 21 Prozent seit 2012 und in Marokko um 20 Prozent seit 2013. Wenn die Verteilungsmuster hinsichtlich der Religiosität im Nahen Osten und in Nordafrika sich in den westlichen Diasporas so fortsetzen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist, wird sich diese Entwicklung voraussichtlich in Europa wiederholen.

      Zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Buches lässt sich noch nicht beurteilen, ob das Verhältnis zwischen den beiden gesellschaftlichen Kräften – der ländlichen und erst kürzlich urbanisierten Bevölkerung, und der Generation von Universitätsabsolventen – ausgewogen bleibt. Da sich bislang keine in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft verankerte Opposition formiert hat, besteht wohl weiterhin die Gefahr, dass sich die Macht auf die Armee oder die islamistischen Bewegungen mit ihren Netzwerken von Aktivisten und organisatorischen Fähigkeiten konzentriert.

      Oder ein geistiges Vakuum?

      Vor dem Anbruch der Moderne, noch vor der Kolonialzeit, wurden islamische Gesellschaften nicht nur durch die Solidarität innerhalb von Familie und Sippe zusammengehalten, sondern auch durch die mystischen Bruderschaften der Sufis, denen die meisten erwachsenen männlichen Mitglieder der städtischen [41]Gesellschaft angehörten (s. dazu Kap. 4). Obwohl mit dem Wiederaufleben des Islam in gewissem Maße auch ein Wiedererwachen sufischer Praktiken einherging, hat doch die kombinierte Stoßkraft des postkolonialen, nationalistischen Kampfes und der modernistischen Bewegung insgesamt zu einem drastischen Bedeutungsverlust des Sufismus geführt. Von den Modernisierern wurde dieser für ein Kennzeichen von »Rückständigkeit« gehalten, während religiöse Puristen ihn ablehnten, da er in ihren Augen durch ketzerische Irrlehren oder, noch schlimmer, durch heidnische Einflüsse verdorben war. Da es jedoch eine Priesterschaft nicht gab, stellten die shaikhs (die »alten Männer«), die murshids (»geistlichen Leiter«) oder pirs (wie sie in persisch- oder urdusprachigen Gegenden genannt wurden) der Sufis eine Quelle geistlicher Autorität dar, welche die ‘ulama als intellektuelle Führungsinstanz ergänzte und bisweilen sogar verdrängte. Zwar spielten einige Sufi-Bruderschaften eine führende Rolle im Kampf gegen die Kolonialherrschaft, doch gab es auch andere, die mit den Kolonialbehörden zusammenarbeiteten. Letztere sahen in jenen Kollaborateuren Verbündete gegen die Modernisten und Reformer, die Pioniere der modernen, nationalistischen Bewegungen. Der Sufismus mit seiner »Vision von Vereinigung und Einssein«, seiner asketischen Hinwendung zu einer anderen Welt und der Beschäftigung mit den esoterischen Dimensionen des Glaubens lässt die banalen Einzelheiten der aktuellen Politik weit hinter sich und transzendiert sie ebenso wie die unvermeidliche Korruption durch die Macht. Der amerikanische Wissenschaftler Peter von Sivers sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der modernen politischen Bewegungen im Islam und dem Niedergang des Sufismus, den viele als das spirituelle Herz und die Seele des Islam betrachten.12 Durch den Ausschluss des Sufismus aus der [43]Debatte zwischen weltlich orientierten Reformern und ihren religiös gesinnten Gegnern ist diese zu einer zunehmend fruchtlosen Konfrontation zweier unversöhnlicher Extrempositionen verkommen.

      Die Ka‘ba (Haus Gottes), der würfelförmige Tempel mit dem heiligen schwarzen Stein im Zentrum des Ehrwürdigen Heiligtums in Mekka. Pilger umschreiten die Ka‘ba, und Muslime auf der ganzen Welt beten in ihre Richtung. Die Kiswa oder Abdeckung aus schwarzer Seide wird jedes Jahr erneuert. (© Popperfoto)

      Schlussbemerkung: Islam und Islamismus

      Der Bestimmungsflughafen für den Hajj, King ‘Abdul ‘Aziz International Airport, in der Nähe von Jeddah in Saudi-Arabien.

      Die riesigen zeltartigen Hallen wurden aus Isoliermaterial hergestellt, das in der Raumfahrtforschung entwickelt worden ist, und bieten genug Platz, um pro Stunde 5000 Pilger abzufertigen. Der Hajj ist dadurch leichter zugänglich und erschwinglicher geworden.

      (Foto: R. Gunay – Mit Genehmigung des Aga Khan Trust for Culture)

      Das religiöse Neuerwachen im modernen Islam spiegelt den raschen sozialen und technologischen Wandel in der muslimischen Welt, besonders aber die zerstörerischen Auswirkungen einer rapide zunehmenden Urbanisierung wider. In dieser Hinsicht ähneln die Ursachen denen in Lateinamerika und Teilen von Schwarzafrika, wo gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine massive Zunahme der Aktivitäten protestantischer Kirchen zu beobachten ist. Allerdings ist die gewachsene Strenggläubigkeit im Islam, die sich an Indikatoren wie der Teilnahme an Gebet, am Fasten und am Hajj, der jährlichen Pilgerfahrt nach Mekka, ablesen lässt, unzertrennlich mit den politischen Bestrebungen der Muslime verbunden. Die meisten von ihnen leben in postkolonialen Staaten, an deren Spitze Regierungen stehen, die in ihren Augen weder über moralische noch geistliche Autorität verfügen. Das Aufkommen der Volksbildung und die zunehmende Verbreitung audiovisueller Kommunikationsmittel hat dazu geführt, dass traditionelle Quellen religiöser Autorität sowohl unter den ‘ulama wie aus der Führerschaft der Sufi-Bruderschaften an Bedeutung verloren haben. Die entstandenen Lücken wurden bis vor kurzem von ganz verschiedenen Bewegungen und Führern gefüllt, von denen die meisten eine religiöse Legitimierung für ihr Handeln beanspruchen. In der Geschichte der islamischen Länder gibt es zahlreiche Präzedenzfälle für religiöse Wiedererweckungsbewegungen, die eine Herausforderung für die Herrschenden darstellten und manchmal selbst die Macht übernahmen, bevor die koloniale und [44]postkoloniale Weltordnung den Großteil der Welt in ihren ökonomischen und kulturellen Wirkungskreis hineinzog.

      Es wäre allerdings falsch, daraus den Schluss zu ziehen, die islamischen politischen Bewegungen unserer Zeit seien nichts als die jüngsten Beispiele für einen seit Jahrhunderten etablierten schematischen Zyklus. Die Wiedererweckungsbewegungen, die so oft die Schlagzeilen beherrschen, sind durchaus modern – nicht nur in ihren Methoden, zu denen hochentwickelte Organisationstechniken genauso zählen wie der Einsatz von Kanonen, Raketen oder Bomben. Sie sind auch insofern modern, als sie in einen »traditionellen« islamischen Diskurs viele importierte Ideen integriert haben, die ihren Ursprung [45]außerhalb der intellektuellen Überlieferung des Islam haben. Der Bedeutungsverlust tradierter Formen der Spiritualität, wie sie in den Sufi-Bruderschaften aufgehoben waren, ist einhergegangen mit einer »Ideologisierung« des Islam auf politischer Ebene, mit der Konstruktion einer politischen Ideologie, die sich einiger aus dem historischen Repertoire des Islam stammender, handverlesener Symbole bediente, andere dagegen ausschloss. Diese Ideologie wird manchmal als »islamischer Fundamentalismus« bezeichnet, wird jedoch mit dem Begriff Islamismus besser beschrieben: Das an das arabische Ausgangswort angehängte lateinische Suffix spiegelt СКАЧАТЬ