Название: Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt
Автор: Marie-Christin Spitznagel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783740973711
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Ohne Bedauern betrachtete er den Gewittersturm, den er beinahe über ganz Mitteleuropa entfacht hatte. Ein heller Blitz durchzuckte den Nachthimmel und schlug krachend in das Dach des Kölner Doms ein. Michael lauschte dem Donnergrollen mit Genugtuung. Eigentlich hatte er nichts gegen Dome oder gar gegen Mitteleuropäer. Im Gegenteil: Er bewunderte sie für ihre grausame Konsequenz, die sie in den letzten Jahrtausenden gezeigt hatten. Folter, Inquisition, Hexenverbrennung, das Konzept der Christianisierung an sich. All das zeugte von einer beeindruckenden Verachtung für Menschen, die Michael durchaus teilte. Er hatte ihnen einfach schon zu lange dabei zugesehen, mit welcher Arroganz sie das Geschenk seines Vaters als selbstverständlich betrachteten. Sie waren zwar auf dem komplett falschen Dampfer, was ihre Grundidee von ‹Gottes Werk› betraf, - denn ‹macht Euch die Erde untertan› beruhte lediglich auf einem Übersetzungsfehler - aber darin waren sie wenigstens konsequent, fleißig und zielstrebig.
Er selbst sah sich keineswegs als ‹Fan› des neuen, reformierten Kurses, des sogenannten Neuen Testaments. Diese Meinung behielt er allerdings tunlichst für sich. Leider wurden die Werte der alten Herren mit Füßen getreten, wenn die jüngere Generation das Ruder übernahm. Was war nur aus ‹Auge um Auge› geworden?
Michael schüttelte den Kopf, als er die Geschichte der Menschheit Revue passieren ließ. Nach fast 1500 Jahren permanenten Massakrierens waren selbst die Europäer in den letzten paar Jahrhunderten verachtenswert weich geworden. Was waren es einst für Kerle gewesen, was konnten die massakrieren! Sie waren sogar über die Meere gefahren, um neue Menschen zum Massakrieren zu finden. Aber damit war es leider auch seit ein paar Jahrhunderten vorbei. Jetzt wurde nur noch missioniert. Und das nicht mehr wie früher, mit Schwertern und Zwang. Nun predigte man Liebe. Auch wenn sich natürlich nicht alle daran hielten. Für Michael und die anderen Erzengel gab es nichts mehr zu tun.
Nachdem die letzten Blitze verklungen und die Wolken im nachtschwarzen Himmel versunken waren, ließ sich Michael wieder auf sein Sofa fallen, streckte sich lang aus, die nackten Füße baumelten über die Lehne.
Er hatte sich seinen Platz als gefürchtetster Krieger des Herren hart erarbeitet, hatte Luzifer bezwungen, Städte in Schutt und Asche gelegt und war seinem Herren blind und treu gefolgt. Ein Erzengel alter Schule, ein Soldat. Es war auch nicht nur die Langeweile, die an ihm nagte. Das grausame Gefühl, überflüssig zu sein, ein Anachronismus, quälte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er schloss die Augen und versuchte, seine dunklen Gedanken in andere Bahnen zu lenken, da hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich, die dort nicht hätte sein dürfen.
«Hallo, Engelchen!»
Er fuhr auf. «Schlange! Was tust du hier und wie kommst du überhaupt herein?»
3 Gabriel
In einer riesigen Halle von überirdischer Perfektion und Schönheit saß Gabriel in einem schneeweißen Ledersessel und dachte nach. Wände und Boden der Halle waren so unglaublich weiß, dass man nicht sehen konnte, wo das eine begann und das andere endete. Keine Fuge oder Kante zerstörte das perfekte Weiß. Er saß in seinem Sessel mit geschlossenen Augen und probierte etwas aus, das ihm ein Neuzugang beigebracht hatte. Me-di-ta-tion hieß es.
Jeder Engel hatte im Himmel seinen eigenen Raum, der seiner Natur entsprach. Michael machte sich immer darüber lustig, dass Gabriels Bereich so weiß und leer war. Sein Vorstellungsvermögen gäbe wahrscheinlich nicht mehr her, sagte Michael. Gabriel hingegen war sich sicher, dass das Weiß der Reinheit und Klarheit seines Geistes entsprach. Er war kein Krieger wie seine Brüder, sondern ein Verkünder, ein Sprachrohr und die Kontaktperson für die Propheten.
Gewesen.
Früher.
Vielleicht war das auch der Grund, warum Gabriel so harmlos aussah. Sein Äußeres war der Aufgabe angepasst, mit Propheten, Heiligen oder anderweitig wichtigen Menschen zu kommunizieren. Seine langen, blonden Haare fielen in weichen Locken über seine Schultern. Sein Gesicht war markant und schön, auf eine unaufdringliche Weise. Bei seinen letzten Besuchen auf der Erde war er mit 1,90 Meter größer gewesen als die meisten Menschen. Jetzt würde ihn niemand mehr automatisch als überirdisch erkennen. Gabriel behauptete, dass ihn das überhaupt nicht störe. Aber es störte ihn doch ein bisschen.
Michael war schon vor geraumer Zeit in das Zimmer gekommen, was sowohl Jahre als auch nur wenige Minuten her gewesen sein konnte. Zeit war im Himmel ein eher fließendes Konzept. Wortlos hatte er einen Köcher mit Blitzen neben den weißen Sessel geworfen, der Gabriel gegenüber stand, und sich in Selbigen fallen lassen, um dann wortlos vor sich hinzustarren. Michael kam häufig in sein Zimmer gepoltert, schmollend wegen eingebildeter Kränkungen und gähnender Langeweile. Mal laut schimpfend, mal still grollend, bis Gabriel ihn endlich ansprach, und fragte, was denn los sei. Allmählich war dieser das Spiel leid. Aber für seinen Lieblingsbruder spielte er mit. Und weil auch er nichts Besseres zu tun hatte. Doch heute war sein Bruder anders. Eine Unruhe umgab ihn. Mehr als sonst. Er war aufgewühlter.
Drängender. Forscher.
Diese Unruhe brodelte unter seiner, nach außen zur Schau gestellten, ruhigen Oberfläche und drängte hinaus. Gabriel konnte fast die Luft um seinen Bruder herum vibrieren sehen.
«Michael, was grummelst du schon wieder?», milde lächelnd blickte Gabriel ihn an. Die Unruhe verunsicherte ihn. Noch immer fläzte sich Michael in den Sessel. Seine Beine hatte er über die linke Armlehne geschwungen, seinen Rücken an die Rechte gelehnt und seinen Ellenbogen gegen die Rückenlehne gestützt, um sein Kinn auf der Handfläche ablegen zu können. Er blickte angestrengt von seinem Bruder weg und prustete, betont gelangweilt, Luft durch die Lippen.
«Michael!», Gabriel legte etwas Strenge in seine Stimme. Seiner Meinung nach stand ihm diese Haltung ganz ausgezeichnet. «Solch ein Verhalten schickt sich nicht für Engel! Ich frage mich, wieso es ausgerechnet mir seit Abertausenden von Jahren auferlegt ist, deine Jammermiene ertragen zu müssen.»
Gabriel hatte sich eine Reaktion erhofft, eine Kleine wenigstens. Oder besser, einen klärenden Streit, eine epische Schlacht der Worte. Er mochte epische Schlachten der Worte. Er mochte den Ausspruch ‹Eine epische Schlacht der Worte› - schließlich war er der Verkünder.
‹Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden›, formulierte er lautlos in seinem Kopf vor. Das war ein solider und unaufdringlicher Einstieg, befand Gabriel. Doch sein Bruder schwieg und starrte wütend vor sich hin.
«Bruder! Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden!» - Seine Worte hatten nicht den gewünschten Effekt. Michael schien unbeeindruckt.
«Lass ab von deinen Zorn, beende dein kindisches Treiben! Sei endlich deiner selbst würdig, verdammte Hacke!» Manchmal entglitt ihm die Zunge. Gabriel tröstete sich damit, dass es, außer Michael, keiner gehört hatte, und diesem hatte er schon schlimmere verbale Ausfälle um die Ohren gehauen.
«Seit von oberster Etage eine neue Richtung vorgegeben wurde und die guten Tage des Alten Testaments abgelöst wurden von Vergebung, Nächstenliebe und Toleranz, hast du schlechte Laune und benimmst dich wie ein Kleinkind. Das ist eines Engels unwürdig! Schäme dich und besinne dich neu.» Gabriel hatte sich in Fahrt gebracht. «Du wurdest erschaffen, um Gottes Armee anzuführen», fuhr er fort. «Du hast gegen unseren gefallenen Bruder Luzifer und seine Folgschaft abtrünniger Engel gekämpft. Du hast Städte voller Sünder in einem Flammenmeer СКАЧАТЬ