Название: Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte
Автор: Roy Jacobsen
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711448991
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»Na, Finn, bist du jetzt zu Hause der Chef?«
Eine Bemerkung, die wahrscheinlich von der Tatsache inspiriert war, dass ich grüne Farbe im Gesicht und an den Fingern und in den Haaren hatte und sicher so aussah, als ob ich Männerarbeit leistete, um unser beider Leben auf geradem Kurs zu halten.
»Ja, er ist so tüchtig«, sagte Mutter mit einem kleinen Knick in den Stimmbändern. »Ohne ihn würde ich doch nie zurechtkommen.«
Was ein Satz ist, der mir ziemlich gut gefällt, denn es gehörte damals nicht viel dazu, Mutter umzuwerfen, obwohl wir in einem Haus aus armiertem Beton mit Schwalbennestern auf dem Dachboden wohnten, mit Nachbarn, die in Ruhe auf ihrem Balkon saßen und Kaffee tranken, oder die den Kopf Stunde um Stunde unter die Motorhaube eines Autos steckten: Ich konnte besser lesen und schreiben als die meisten, und Mutters Gehalt kam, wie es sich gehörte, alle vierzehn Tage, ja, obwohl eigentlich hier niemals auch nur das Geringste passierte, war es doch so, als ob wir ununterbrochen von Gefahren umgeben wären, die wir nur mit viel Glück haarscharf umschiffen konnten, solange es gut geht, um meine Mutter zu zitieren, denn aus dem, was nicht passiert, können wir auch nichts lernen.
»Du weißt, ich bin nicht mehr so stark«, murmelte sie, wenn etwas anlag, und damit bezog sie sich – auch wenn ich nie fragte und sie nie eine Erklärung lieferte – auf ihre Scheidung, die sie wohl wie eine Lawine umgerissen hatte und die nur die Einleitung zur restlichen Serie kleiner Kapitel in einer Art ewigem Elend gewesen war. Denn wenn es auch die Zeit Juri Gagarins war, so war es einwandfrei nicht die Zeit der Scheidungen, es war die Zeit der Ehe, und nur ein Jahr nach der Scheidung war er auch fortgegangen, wie Mutter das nannte, bei einem Arbeitsunfall. Mein Vater, umgekommen bei einem Kranunglück in der Werft Akers Mek. Ich kann mich weder an ihn noch an die Scheidung oder das Unglück erinnern, aber Mutter erinnert sich für uns beide, auch wenn ich ihr also nie etwas Konkretes entlocken kann, zum Beispiel, wie er aussah oder was er in seiner Freizeit gern oder nicht gern getan hat, falls er überhaupt Freizeit hatte, woher er kam oder worüber sie in den glücklichen Jahren gesprochen haben, die sie vermutlich gehabt haben, während sie auf mich warteten; selbst ihre Fotos hält sie bedeckt, es ist, kurz gesagt, eine Zeit, unter die wir einen Schlussstrich gezogen haben.
Im Kielwasser der beiden Unglücke kam dann noch eins, das mit einer Witwenpension zu tun hatte; mein Vater hatte nämlich noch schnell heiraten können, ehe er vom Kran gefallen war, und er hatte noch ein Kind bekommen, ein Mädchen, wir wussten nicht einmal seinen Namen, aber jedenfalls saß irgendwo dort draußen noch eine Witwe und bekam das Geld, das Mutter und mir zugestanden hätte, und vergeudete es für Toto und Taxi und Dauerwellen.
»Ja, ich versteh ja nicht, wo sie geblieben sein können«, sagte Frau Syversen resigniert und schwenkte die Quittungen für die Tapeten ohne Kleister. Aber jetzt konnte Mutter die Sache immerhin beenden, mit ihrem schlichten: »Ja, ja, dann müssen wir an den Knöpfen abzählen.« Sie bedachte die drei Mädchen mit einem letzten Lächeln, und die starrten stumm zurück, mit heruntergeklapptem Kinn und drei riesigen Milchbärten: »Danke, dass wir das sehen durften, die sind wirklich wunderschön.«
2
Schon am nächsten Tag waren wir im Årvollsenter und sahen uns Tapeten an. Und das ist nicht wenig aufsehenerregend, denn Mutter ist nicht nur von Gefahren umgeben, sie braucht auch immer lange zum Überlegen: Die grüne Farbe, für die wir soeben unser Geld aus dem Fenster geworfen hatten, war zum Beispiel keinem spontanen Einfall entsprungen, sie war das Resultat mühsamer Gedankenarbeit, die seit dem vorigen Weihnachtsfest geleistet worden war; damals hatte uns ein älteres Ehepaar im Erdgeschoss zu Kaffee und Kuchen eingeladen, und alle Wände hatten eine andere Farbe gehabt als unsere, und es stellte sich heraus, dass sie selbst angestrichen hatten, mit einem Quast.
Ein andermal hatte sie mich bei einem Kumpel namens Essi abgeholt, und dort hatte der Vater die Tür zum kleinsten Schlafzimmer aus dem Wohnzimmer in die Diele versetzt, so dass Essis große Schwester, die sechzehn war, fast ihren eigenen Eingang hatte, von der Diele aus. Und jetzt schienen diese ganzen Beobachtungen, zusammen mit der Tatsache, dass der Laden, in dem wir uns befanden, von Zukunft, Möglichkeiten und Erneuerung geradezu überquoll, ja, zwischen den Farbeimern und den blauen Lagerkitteln in diesem Laden war ein Optimismus zu spüren, der Steine bewegen könnte, diese Beobachtungen allesamt schienen sich zu einer einzigen großen Schlussfolgerung zusammenzufügen: »Na gut«, sagte Mutter. »Dann müssen wir eben doch vermieten. Da führt kein Weg vorbei.«
Ich schaute verblüfft zu ihr hoch, wir hatten nämlich schon häufiger darüber gesprochen und waren, nach meiner Meinung, zu einer Art Vereinbarung gekommen, dass wir eben nicht vermieten würden, egal, wie knapp wir bei Kasse wären, denn dann würde ich doch mein Zimmer, das ich so sehr liebte, aufgeben und in ihres übersiedeln müssen.
»Ich kann im Wohnzimmer schlafen«, sagte sie, ehe ich den Mund aufmachen konnte.
An diesem Nachmittag wurden deshalb nicht nur Tapeten und Kleister gekauft, es wurde auch eine Annonce aufgegeben, in der sozialdemokratischen Tageszeitung Arbeiderbladet, Zimmer zu vermieten. Abermals wurde Kontakt zu dem gewaltigen Tiermann Frank aufgenommen, konnte nicht Frank, der im Alltag einen Bulldozer auf den neuen Baustellen in Groruddalen bediente, abends die Tür zu unserem kleinsten Schlafzimmer in die Diele versetzen, damit der Mieter oder die Mieterin nicht unser Privatleben durchqueren müsste, um aus und ein zu gehen, um nicht zu sagen, damit nicht eine wildfremde Person immer wieder durch unser frisch tapeziertes Wohnzimmer lief?
Mit anderen Worten stand uns eine spannende Zeit bevor.
Es stellte sich heraus, dass Frank kein großartiger Schreiner war. Er machte ein gewaltiges Wesen um die Arbeit, er arbeitete außerdem im Netzunterhemd, schnaufte und schwitzte heftig und nannte Mutter schon am ersten Abend Kleine.
»Was meinst du, Kleine, willste diesen Türrahmen behalten oder soll ichn neuen besorgen?«
»Kommt drauf an, was das kostet«, sagte Mutter.
»Für dich nicht viel, Kleine, ich hab Beziehungen.«
Zum Glück fand auch Mutter es nicht so toll, dauernd Kleine genannt zu werden. Und Frau Syversen schaute in regelmäßigen Abständen herein, um mitzuteilen, das Essen stehe auf dem Tisch oder die Müllabfuhr verspäte sich an diesem Tag. Ich muss zugeben, dass ich auch gut aufpasste, denn Mutter trug vor jedem Arbeitseinsatz Lippenstift auf und nahm die Lockenwickler aus den Haaren, ich hatte fast keine Zeit, auf der Straße draußen zu sein. Ab und zu schickte Frau Svyversen auch ihre älteste Tochter, Anne-Berit, und dann sahen wir dem riesigen Mann zu, der mit gewaltigen Türblättern und Furnierplatten herumfuchtelte und dessen schwarze Haare auf Schultern und Rücken wie überwinterte Grasbüschel durch die Löcher im ungewaschenen Netzhemd quollen, das eher aussah wie ein Fischnetz als wie ein Kleidungsstück, und der zwischen den Schlägen stöhnte: »Hammer! Nagel! Zollstock!« –, in scherzhaftem Ton, damit wir Handlanger sein könnten, es war eine Freude. Aber als die Tür endlich angebracht war und die andere Türöffnung abgedichtet, nach einer guten Woche, mit neuen Türrahmen und überhaupt, und als von Bezahlung die Rede war, wollte Frank keine. »Bist du verrückt?«, fragte Mutter.
»Aber vielleicht könntest du mir ein Schnäpschen anbieten, Kleine«, sagte er leise, als ob sie durch die gelungene Operation jetzt ein gemeinsames Geheimnis hätten. Es half nichts, dass Mutter mit offenem Portemonnaie und zwei, drei blauen Fünfern zwischen den frischlackierten Nägeln von einem Fuß auf den anderen trat, als gäbe es genug von der Sorte, man brauche nur zu fordern, Frank war und blieb ein Mann von Welt, es endete damit, dass er stattdessen zwei Glas Curação bekam.
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