Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake
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Название: Zwischen Gerechtigkeit und Gnade

Автор: Michael Blake

Издательство: Автор

Жанр: Афоризмы и цитаты

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isbn: 9783534746316

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СКАЧАТЬ oder dem mutmaßlichen Recht darauf, die Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte eines Dritten zurückzuweisen, das ich in meinem eigenen Ansatz anführe. An dieser Stelle möchte ich jedoch nur darauf bestehen, dass solche Argumente vorgebracht werden müssen, um den auf der Idee der Verteilungsgerechtigkeit beruhenden Überlegungen Geltung zu verschaffen. Nun möchte ich allerdings mit der Untersuchung des Arguments der Chancengleichheit fortfahren, da es in meinen Augen die erfolgversprechendste Version des Arguments der Verteilungsgerechtigkeit darstellt. Hierzu werde ich Kieran Obermans Überlegungen genauer untersuchen, dessen Argumente sehr gut entwickelt und daher einer ausführlicheren Betrachtung wert sind.

      Oberman formuliert sein Argument der Chancengleichheit als Antwort auf die Behauptung David Millers, wir hätten kein Recht auf die größtmögliche, sondern bloß auf eine angemessene Menge an Lebensmöglichkeiten. Hiergegen verteidigt Oberman die Idee, dass alle Menschen einen Anspruch auf die größtmögliche Menge an verfügbaren Möglichkeiten haben, was er als „vollen Umfang verfügbarer Optionen zur persönlichen Lebensgestaltung“ bezeichnet.45 Er argumentiert gegen Miller, dass eine Person den Anspruch auf diesen vollen Umfang aufgrund der persönlichen und politischen Interessen besitzt, die den Kern des eigenen Lebens bilden. Darunter fällt zum Beispiel, dass ich zur Umsetzung eines bestimmten Lebensplans in ein anderes Land ziehen oder zu dem Zweck migrieren möchte, mehr darüber zu erfahren, wie andere Länder Politik betreiben. Laut Oberman käme die Verweigerung des Rechts auf eine derart motivierte Migration daher der Beseitigung verfügbarer Optionen innerhalb einer politischen Gemeinschaft gleich:

      „Sollte das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit die Menschen bloß zu einem ‚adäquaten‘ Umfang von Optionen der Lebensgestaltung berechtigen, würde den Bewohnerinnen der Staaten, in denen eine größere Menge solcher Optionen zur Verfügung steht, kein Menschenrecht auf freie Bewegung über das gesamte Gebiet ihres eigenen Staates hinweg zukommen. Sollte beispielsweise Belgien einen ‚adäquaten‘ Umfang solcher Optionen bieten, die Vereinigten Staaten im Vergleich dazu aber eine Vielzahl mehr, stünde Personen innerhalb der Vereinigten Staaten deutlich mehr als eine ‚adäquate‘ Menge an Optionen zur persönlichen Lebensgestaltung zur Verfügung. Bestünde allerdings bloß ein Recht auf eine ‚adäquate‘ Menge solcher Optionen, könnten die Vereinigten Staaten ihr Staatsgebiet in hunderte Parzellen von der Größe Belgiens aufteilen und jede einzelne Grenze zwischen den Parzellen mit Wachpersonal und Stacheldraht ausstatten, ohne dadurch das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit zu verletzen.“46

      Eine solche Position wäre laut Oberman genauso einfältig wie der Gedanke, dass ein Verbot der jüdischen Religion so lange keine Verletzung der Religionsfreiheit darstelle, wie eine „angemessene“ Auswahl anderer Religionen zur Verfügung stehe. Oberman legt nahe, dass in beiden Fällen die Chancengleichheit nur dann wirklich angemessen erfüllt ist, wenn jede Person ein Recht auf den vollen Umfang möglicher Optionen zur persönlichen Lebensgestaltung besitzt, was wiederum bedeutet, dass jeglicher Ausschluss mutmaßlich ungerecht ist.

      Ein solcher Gedankengang scheint jedoch die moralische Struktur von Bürgerrechten misszuverstehen. Zunächst erscheint es schlicht falsch, zu denken, dass jede Person ein Recht auf den maximalen Umfang von Möglichkeiten hat. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass ein bestimmtes Land vor der Wahl steht sich zu industrialisieren oder weiterhin eine landwirtschaftliche Lebensweise zu pflegen. Auch wenn ich nicht sagen kann, wie in einem solchen Falle zu entscheiden wäre, sehe ich es als unwahrscheinlich an, dass dabei allein die Quantität der Möglichkeiten eine Rolle spielen sollte. Die Tatsache, dass mit der Industrialisierung mehr Möglichkeiten für die persönliche Lebensführung einhergehen, stattet uns daher nicht mit hinreichenden Gründen dafür aus, ein mögliches Ausbleiben der Industrialisierung als ungerecht zu bezeichnen.

      Was stattdessen zählt, ist nicht der Umfang an Möglichkeiten, sondern warum sie eben diesen Umfang besitzen. Nehmen sie beispielsweise Belgien. Sollten sich die Vereinigten Staaten tatsächlich in kleinere Einheiten aufteilen, jede von ihnen bewacht von Menschen mit Schusswaffen, wäre ich ebenfalls der Meinung, dass es sich hierbei um einen eher ungerechten Vorgang handelt. Aber der Grund für dieses Urteil hat rein gar nichts mit der Frage zu tun, ob die Möglichkeiten der persönlichen Lebensgestaltung in Belgien angemessen sind. Stattdessen ist ausschlaggebend, dass es einem Staat nicht gestattet ist, seine Bevölkerung so zu behandeln, wie die Regierung der Vereinigten Staaten die auf amerikanischem Boden anwesenden Personen behandelt, und diese Personen dann zugleich davon abzuhalten, sich frei auf eben jenem Boden zu bewegen. Wenn wir die Rechtfertigung der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit stärker als die Rechtfertigung eines Bürgerrechts verstehen, was Oberman nicht zulässt, dann besteht die Ungerechtigkeit darin, dass die mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten persönlicher Lebensgestaltung auf den Umfang belgischer Optionen reduziert wurden und zugleich seitens des Staates darauf bestanden wird, mich von der Hauptstadt aus zu regieren. Adam Hosein hat ein ähnliches Argument vorgebracht: Im Hinblick auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit ist nicht die Bewegungsfreiheit als solche von Bedeutung, sondern wie die Art der Einschränkungen dieser internen Bewegungsfreiheit vom Staat dazu genutzt werden könnte, Bürgerinnen ungerechtfertigterweise ungleich zu behandeln.47 Um Obermans Beispiel abzuwandeln: Sollten die Vereinigten Staaten in eine Vielzahl souveräner Territorien von der Größe Belgiens aufgeteilt werden, jedes von ihnen geschützt durch Stacheldraht und bewaffnete Grenzposten, würde ich das bedauerlich finden. Aber meine Reaktion auf diesen Fall wäre eindeutig eine andere, wenn die Vereinigten Staaten sowohl das Recht für sich beanspruchen würden, mich mittels Zwangsgewalt zu regieren, als auch meine Bewegungsfreiheit auf amerikanischem Boden einschränkten. Der erste Fall scheint mir bedauerlich, aber nicht in sich ungerecht. Im Gegensatz dazu erscheint mir der zweite Fall tatsächlich als ungerecht. Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten das Recht beansprucht, mich zu regieren, so kann sie dies nicht gerechterweise beanspruchen, während sie mich an der freien Bewegung innerhalb der USA hindert.

      Ich denke, dass ähnliche Erwägungen auf die Überlegungen zur Religionsfreiheit zutreffen. Oberman und ich stimmen darin überein, dass ein Verbot der jüdischen Religion moralisch falsch wäre. (Tatsächlich denke ich, dass es sich hierbei um einen der bereits im vorherigen Kapitel erwähnten grundlegenden Orientierungspunkte handelt.) Die Rechtfertigung dieser Behauptung aber hat weit weniger mit der Zahl mir verfügbarer Religionen zu tun, als mit der Historie staatlicher Versuche, manche Bürgerinnen als moralisch minderwertig im Vergleich zu ihren Mitbürgerinnen zu behandeln. Ich denke, es besteht ein Recht darauf, dass die eigenen religiösen Überzeugungen als ebenso moralisch bedeutsam anerkannt werden wie diejenigen der Mitbürgerinnen, und dass daraus ein Recht auf Religionsfreiheit erwächst. Es ist folglich in der Tat ungerecht, wenn ein Staat eine bestimmte Religion verbietet – allerdings beruht diese Ungerechtigkeit darauf, wie der Staat uns in diesem Fall im Vergleich zu unseren Mitbürgerinnen behandelt. Auch hier besteht die Frage nicht darin, wie groß der Umfang an Optionen hinsichtlich des eigenen religiösen Glaubens ist; sie besteht darin, wie und warum ein mit Zwangsgewalt ausgestatteter Staat eine Option aus der Auswahl entfernt.

      Anders ausgedrückt: Religiöse Intoleranz kann durchaus verurteilt werden ohne dabei annehmen zu müssen, dass ein Recht auf den größtmöglichen Umfang von Optionen hinsichtlich der Wahl der eigenen Religionsgemeinschaft besteht. Das genannte Beispiel ist jedoch auch in anderer Hinsicht lehrreich. Aus der Religionsfreiheit wird oft ein Recht auf Freiheit vor staatlichen Eingriffen in die Ausübung der jeweiligen Religion abgeleitet. Allerdings folgt aus der Religionsfreiheit im Allgemeinen kein Recht auf die für diese Ausübung notwendigen Mittel, oder auf die Mitwirkung von Personen, deren Beitrag für diese Ausübung notwendig erscheinen mag. Wenn meine Religion beispielsweise von mir verlangt, eine kostspielige Pilgerreise auf mich zu nehmen, ist nicht direkt ersichtlich, warum die Idee der Religionsfreiheit den Staat dazu verpflichten sollte meine Reise zu finanzieren.48 Wenn mein Gottesdienst eine Minjan von zehn Leuten verlangt, aber bloß neun Personen Teil meiner religiösen Gemeinschaft sind, kann ich nicht dem Staat gegenüber darauf bestehen, mich mit der zehnten Person zu versorgen, sei es durch Einwanderung oder (vielleicht) Anreizen zur Konversion. Die Freiheit der Religionsausübung umfasst kein Recht auf die Nutzung fremder Körper oder Ressourcen.

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