Название: Unterwegs geboren
Автор: Christa Enchelmaier
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783956831683
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Nach drei oder vier Tagen Aufenthalt im Lager war ein Weitertransport geplant. Wenn dann am frühen Morgen durch Lautsprecher gemeldet wurde: »Achtung, Achtung, alle mit der Erkennungsnummer Ki 5 oder A 4 fahren heute weiter«, war dann die Aufregung groß. Jetzt ging es endlich nach Deutschland. Aber wohin genau? Wie weit war es noch? Würden die nachkommenden Männer den Ort im Deutschen Reich finden? Wer sagt ihnen, wo ihre Familien gelandet waren?
IM UMSIEDLUNGSLAGER BÖHMISCH-LEIPA
Mit dem Zug ging es weiter nach Deutschland. Es mussten dort 93.000 Umsiedler untergebracht werden, bevor sie Haus und Hof erhielten. Dazu benutzte man große Gebäude mit entsprechenden Räumen, sogenannte ›Umsiedlungslager‹. Es waren etwa 800 verschiedene ›Auffang- und Beobachtungslager‹ vorgesehen, auf die die Bessarabien-Deutschen verteilt wurden. Sie befanden sich hauptsächlich in Sachsen, Franken, Bayern, im Sudetenland und in Österreich. Es wurde darauf geachtet, dass die Dorfgemeinschaften nach Möglichkeit zusammenblieben. Gnadentaler Bewohner kamen nach Böhmisch-Leipa im Sudetenland, eine Kleinstadt in Nordböhmen circa 70 Kilometer nördlich von Prag.
Zuerst trafen die Frauen und Kinder ein, die mit dem Zug vom Zwischenlager Prachowo über Zagreb und Villach nach Böhmisch-Leipa gereist waren. Und so erfuhren auch sie zuerst, dass das Lager eine ehemalige Spinnerei war, die einem Wiener Juden mit Namen Rosenthal gehört hatte. Es hieß, die SS hätte ihn abgeholt und nach Treblinka gebracht.
Die Fabrik war ein zweiflügliges großes, vierstöckiges Gebäude mit einigen Nebengebäuden und Baracken. Vierzehn große Räume waren für 1.700 Umsiedler vorbereitet worden. Statt Produktionsmaschinen stand nun alles voll mit primitiven, zweistöckigen mit Strohsäcken belegten Holzpritschen. Trennwände für die Familien waren nicht vorhanden.
Die Ankommenden konnten es nicht glauben, dass ihnen so etwas zugemutet wurde. »Da hatten es ja unsere Tiere in Bessarabien besser!«, stellten sie fest. Widerwillig nahmen sie die ihnen zugeteilten Betten dann aber dennoch in Besitz. Mit Tüchern und Decken, die sie als Sichtschutz aufhängten, schafften sich einige Familien etwas Privatsphäre.
Das Stimmengewirr und die Geräusche, die Gesprächsfetzen von Nachbarn, das Weinen der Kinder und Alten, all das machte den künftigen Tagesablauf aus. Gegessen wurde im großen ›Speisesaal‹, der in einem Nebengebäude zu finden war. Das Lager beherbergte außer den 1.200 Gnadentalern noch 500 Personen aus Neuarzis und 100 von dem Weiler Demir-Chadschi, beides Ortschaften, die im Umkreis von Gnadental zu finden waren.
Jungs und Mädchen ab 15 Jahren wurden getrennt in verschiedenen Sälen einquartiert. Unterrichtet wurden die Kinder von Lehrern aus unseren Heimatgemeinden. Schüler, die eine weiterführende Schule besuchen wollten, gingen in die Oberschule der Stadt Böhmisch-Leipa.
Im ersten Stock der Fabrik hatte das Umsiedlungskomitee in einer Ecke eine behelfsmäßige Entbindungsstation eingerichtet, wo ich eine Woche später auf die Welt kam – das erste Kind, das dort geboren wurde. Meine Tante Lydia, die in Stuttgart Kinderkrankenschwester gelernt hatte, war zuständig für diese Station und half meiner Mutter bei meiner Geburt, die ohne Komplikationen verlief. Mutter war danach noch einige Zeit in dieser Station untergebracht, in der wir gut versorgt wurden.
Alma O. kann sich noch daran erinnern, dass in der ersten Zeit auf der anderen Seite der Straße im ersten Stock einer Villa ein älterer tschechischer Arzt eine Krankenstation hatte.
Etwa drei Wochen später trafen die Männer und noch ein paar Frauen in der neuen Unterkunft ein. Sie waren den gleichen Weg gekommen wie ihre Familien. Viele liefen ihnen entgegen und man freute sich so über das Wiedersehen.
Meinem Vater wurde sofort berichtet, dass er eine gesunde Tochter bekommen hatte. Er hätte ja lieber einen Jungen gehabt, aber als er mich das erste Mal im Arm hatte und ich ihn anlächelte, war alles andere vergessen, erzählte er mir später.
Alle waren wieder glücklich beisammen.
Viele Fragen wurden gestellt, viele Informationen ausgetauscht. »Wie war es, als ihr Gnadental verlassen habt? Seid ihr mit dem Treck gut nach Galatz gekommen? Wer versorgt jetzt die Tiere, melkt die Kühe? Wer wohnt in unserem Haus?«
Die Gruppe wurde immer größer und die Männer berichteten abwechselnd: »In Gnadental haben wir mit vollgeladenen Planwagen ungeduldig auf den Tag der Abfahrt gewartet. Der zu erwartende Herbstregen beunruhigte uns, weil wir wussten, dass dann im aufgeweichten Boden ein Vorwärtskommen unmöglich war. Es war aber nicht nur die zu erwartende Regenzeit, die uns Sorgen machte. Es war das völlig fremde, veränderte Leben, das seit der Übernahme durch die Sowjets das Dorf beherrschte.«
Ihre festgefügte und selbstverständliche Lebensordnung war gestört und sie fühlten sich nicht mehr als freie Menschen. Sie lebten in ihren Wirtschaften, aber es war nicht mehr ihr Zuhause. Die vielen Verordnungen des Dorfsowjets erfüllten sie sorgfältig. Aber es kamen immer neue dazu. Wie Kolchosearbeiter mussten sie den neuen Herrschern gehorchen, um nicht den Ablauf der Umsiedlung zu gefährden oder sogar in Haft genommen zu werden.
All ihr Tun wurde misstrauisch vom Dorfsowjet und den Männern der roten Miliz beobachtet. Nun konnten sie sich vorstellen, wie sich ihr Leben gestalten würde, wenn sie bleiben würden. Mit selbstständiger Bauernarbeit wäre es für alle Zeiten vorbei. Alles musste nach dem Befehl des Dorfsowjets geschehen, auch wenn es gegen jede Erfahrung und noch so unsinnig war. Jeder noch so kleine, selbst berechtigte Einspruch wäre zwecklos und jeder Widerstand gefährlich. Es wurde ständig mit Abschiebung nach Sibirien gedroht.
Nachdem die Frauen und Kinder weg waren, herrschte eine unheimliche Stille in den Häusern. Meistens war nur der Vater mit einem oder mehreren erwachsenen Söhnen zurückgeblieben. Der Wagen mit dem Gepäck war gerichtet, ein Verdeck zum Schutz vor Regen angebracht. Man wartete nur noch auf den Abmarschbefehl.
Die Männer rückten zusammen. Oft waren 10 bis 12 Wagen auf einem Hof zusammengeschart und es wurden Wachen aufgestellt. Und wer diesen Dienst zu versehen hatte, hatte es nicht gerade leicht. In den Abendstunden erhob sich nämlich das Geheul der zurückgebliebenen Hunde auf den leeren Höfen, das die Nacht hindurch anhielt. Die zurückgelassenen Haustiere, die Pferde, Kühe und Schafe, waren den Russen übergeben und in große Gehege eingepfercht worden. Das Brüllen, Blöken und Wiehern mischte sich in das Heulen der Hunde und weckte Mitleid und Betroffenheit bei denen, die es anhören mussten.
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