Название: Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein
Автор: Pascale Karlin
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783957791320
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Ein weiteres Problem für Menschen mit Autismus liegt darin, dass sie selten als eigenständige Individuen gesehen werden, sondern einfach als Autist*innen, wie sie im Buch stehen oder in einem Film vorkommen. Erschreckend finde ich, dass seit einiger Zeit das Wort „Autismus“ oder „autistisch“ im Journalismus, aber auch in der Fachliteratur gerne benutzt wird, um Missstände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die ein egoistisches Ziel verfolgen, zu beschreiben. Hier zeigt sich zugespitzt, was ich mit Interpretationen, Phantasien und Vorurteilen meine.
Niemandem würde es in den Sinn kommen, die heute verbreitete Leseschwäche vieler Menschen als „geistig behindert“ oder eine körperliche Ungeschicklichkeit als „spastisch“ zu bezeichnen. Während bei anderen Formen von Beeinträchtigungen ethische und moralische Zurückhaltung selbstverständlich ist, ist es in Bezug auf Autismus gebräuchlich geworden, Egoismus und rücksichtsloses Handeln mit Autismus gleichzusetzen. Eine solche Pauschalbezeichnung der Gesellschaft auf Kosten von Menschen mit einer Beeinträchtigung sollte unbedingt vermieden werden, denn diese Verknüpfung von Autismus mit gesellschaftlichen Problemen artet schnell in diskriminierende Phantasien in Bezug auf Menschen mit Autismus aus.
Egoismus und Autismus sind sogar Gegensätze, da Menschen mit Autismus oft nicht einmal imstande sind, das Wortpaar Ich-Du (so wie es insbesondere Martin Buber als Ur-Kategorie beschrieben hat, mehr dazu im Kapitel Menschen mit Autismus und ihre Art wahrzunehmen) zu verstehen. Für Buber entsteht das Ich am Du. Egoismus dagegen stellt das Ich ins Zentrum. Das tatsächliche Problem sehe ich darin, dass unsere Ich-zentrierte Gesellschaft durch den Menschen mit Autismus einen Spiegel vorgehalten bekommt. Der Mensch mit Autismus dient der Gesellschaft als Projektionsfläche, da er auf Egoismus und Selbstbezogenheit in keiner Art und Weise anspricht.
Die Tendenz, alles was nicht der „Norm“ entspricht und auch sonst in keine bestimmte Kategorie passt, als „Autismus“ zu bezeichnen, ist eine schädliche Entwicklung und bringt sehr viel Verwirrung, nicht nur in Kreisen von Laien, sondern auch in der Fachwelt. „Autistische Züge“ oder „autistische Tendenzen“ sind nicht Autismus. Immer mehr Eltern sind verunsichert und suchen für ihre ganz „normalen“, vielleicht etwas stillen, scheuen, oder zurückhaltenden Kinder eine Fachstelle für Autismus auf. Kinder, welche Autismus haben, sind in der Regel nicht zu „übersehen“. Und jene, die nur „autistisch angehaucht“ sind, haben keinen Autismus und brauchen keine Abklärung. Die Meinung, dass Autismus immer mehr zunehme, erkläre ich mir durch diese Form von „Hysterie“, die zu voreiligen Diagnosen führt. Zudem lässt unsere zur Gleichförmigkeit neigende Gesellschaft immer weniger Eigenheiten zu. So gibt es heute sicher sehr viele „autistische“ Menschen, die keinen Autismus haben.
Meiner Ansicht nach ist die Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu hinterfragen, da sie jede Form von „Introvertiertheit“, oder „Anderssein“ ins Spektrum einbeziehen kann. Eine klare Abgrenzung von „normal“ und „pathologisch“ ist aber dringend notwendig, um die Grenzen nicht immer mehr zu verwischen. Das ist auch wichtig, damit die Mittel für Forschung und Unterstützung für tatsächlich vom Autismus betroffene Menschen zur Verfügung stehen.
Wir kommen zu der Frage, wie die Welt auf Menschen mit Autismus wirkt und diese Frage hat mit dem fragilen Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein von vielen Menschen mit Autismus zu tun. Und genau hier können auch viele Fragen auf das oft so unverständliche Verhalten von Menschen mit Autismus geklärt werden.
Was ist Autismus?
Wenn ich zum Thema Autismus unterrichte, dann höre ich beinahe jedes Mal die Aussage: „Wir sind doch alle manchmal ein bisschen autistisch“. Ich möchte diese Aussage sehr bezweifeln, denn in dem Augenblick, in dem ein Mensch ohne Autismus ein bisschen autistisch wäre, würde ihm der Boden unter den Füßen wegbrechen und er geriete in akute Panik, da sich sein vertrautes Gefühl der Seins-Kontinuität in Luft auflösen würde. Dinge sortieren, ein bisschen penibel sein, das Bedürfnis nach Rückzug, keine Lust zum Kommunizieren, zurückhaltend oder scheu sein, all das ist nicht „ein bisschen autistisch“, sondern einfach menschlich. Autistisch würde bedeuten, dass Ihnen von einem Moment zum anderen alle Sinnesschleusen aufgehen und Ihnen die Fähigkeit zum Filtern der Sinneswahrnehmungen fehlen würde. Die Verarbeitung dieser Fülle an Eindrücken wäre Ihnen kaum noch möglich, da Sie sich nicht mehr als in sich geschlossene Person wahrnehmen könnten und die Innen- und Außenwahrnehmung zu einer einzigen Flut zusammenfließen würden. Das ist Autismus! Manchmal ein bisschen mehr, manchmal ein bisschen weniger – aber von Geburt an bis zum Tod. Genauso wie eine Frau nicht ein bisschen schwanger sein kann, genauso unmöglich ist es, manchmal ein bisschen autistisch zu sein.
Um Autismus und das Verhalten von betroffenen Menschen zu verstehen, muss zunächst klar definiert sein, was Autismus tatsächlich ausmacht. Dass diese Frage wissenschaftlich bis heute nicht endgültig geklärt wurde, könnte darauf hinweisen, dass es den Autismus vielleicht gar nicht gibt, die Ursache mit den herkömmlichen Möglichkeiten nicht nachgewiesen werden kann, oder dass das, was alle Menschen mit Autismus gemeinsam haben, noch nicht gefunden wurde. Für mich als Betroffene ist das ein Rätsel, da sich mir die Gemeinsamkeit von Menschen mit Autismus klar zeigt. Warum diese Gemeinsamkeit nicht wahrgenommen werden kann, ist für mich ebenso klar: Es ist der Zeitgeist des Ich-Zentrismus. Wer vom Ich/Ego als seinem zentralen Lebensmittelpunkt (Selbstwahrnehmung) ausgeht, kann ein Sein, welches auf einem ganz anderen Prinzip beruht, nicht erkennen, und die Auswirkungen auf ein solches dezentrales oder peripheres Leben nicht nachvollziehen. Ich vermute, dass die derzeitige Diagnosepraxis diesem absolut wesentlichen Teil, der Selbstwahrnehmung, zu wenig Rechnung trägt und so nicht selten zu Fehldiagnosen führt.
Dem einen oder anderen fällt jetzt vielleicht der Schleier von den Augen. Das, womit alle Menschen mit Autismus konfrontiert sind, ist ihre Art der Selbstwahrnehmung, die offenbar nicht jener von anderen Menschen gleicht. Und dies nicht etwa erst ab dem Zeitpunkt ihrer Entwicklung, wo sie „Ich“ zu sich selbst sagen können sollten, sondern schon von Geburt an. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass die heutige Bezeichnung des Autismus Spektrums immer eine Symptom-Diagnose nach gängigen Kriterien ist. Wichtig erscheint mir hier aber zu erwähnen, dass so gesehen Autismus nicht immer auch Autismus bedeutet. Denn wenn ein Kind – sagen wir mit fünf Jahren – eine Gehirnhautentzündung erleidet und danach eine Diagnose gestellt wird (Atypischer Autismus), dann hat dieses Kind bereits ein Bewusstsein für sein Ich entwickelt, während ein Kind, das von Geburt an Autismus hat (Kanner Autismus), nie eine solche Erfahrung gemacht hat. Dasselbe gilt für Kinder, die normal sprechen lernen und dann ihre Sprachfähigkeit mit zwei oder drei Jahren wieder einbüßen (Rett-Syndrom). Ich sehe darin einen wesentlichen Unterschied, da sich die neuronale Struktur dieser Kinder erheblich unterscheiden dürfte. Beim sogenannten Asperger Autismus vermute ich eine „begrenzte“ Ich-, oder Selbst-Wahrnehmung, jedenfalls scheint hier ein Bewusstsein von sich selbst als eigenständige Person klarer vorhanden. Die Schwierigkeit dieser Form liegt oft darin, dass Betroffene nicht immer erkennen können, wie sie auf andere Menschen wirken (erschwerte Selbstreflexion). Einige der Betroffenen haben auch Mühe zu verstehen, dass ein anderer Mensch auch andere Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken haben kann als sie selbst. Für mich liegt hier die Ursache in einer unklaren Erkenntnis der eigenen Grenzen. Wer hier den Hintergrund, die unklare Selbstwahrnehmung nicht kennt, neigt gerne dazu anzunehmen, es handle sich um einen besonders egoistischen Menschen. Dies ist jedoch nicht zutreffend, weil ein ausgeprägter Egoismus auch eine ausgeprägte Wahrnehmung von sich selbst als Ich/Person bedingt, denn Ego bedeutet nichts anderes als Ich. Das Problem dabei ist, dass sich Egoismus und fehlende Selbstwahrnehmung nach außen hin in sehr ähnlicher Weise zeigen können, der Hintergrund aber ein ganz anderer ist.
Da ich nicht jede Form des Autismus durcharbeiten kann, aber einen Einblick in ein Leben mit Autismus geben möchte, werde ich mich auf СКАЧАТЬ