Название: Die Siebte Sage
Автор: Christa Ludwig
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783772542701
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«Niemals! Ich bin deine Freundin. Aber du musst mir sagen, warum deine Eltern das gemacht haben.»
Sie zerriss das Band, zog Dshirah den linken Schuh aus, zuckte zusammen. Hatte sie gehofft, dass die Freundin an diesem Fuß nur fünf Zehen hätte? Es waren sechs. Sie blickte auf.
«Sag es mir!», verlangte sie. «Warum?»
«Weil wir Barden sind», erklärte Dshirah. «Wir glauben eben nicht, dass irgendein Kind mit sechs Zehen das Dshinnu aus den Sieben Sagen ist. Nur weil es auch sechs Zehen hat. Also haben meine Eltern auch nicht geglaubt, dass ich die verlorene Siebte Sage erzählen kann. Auch nicht, wenn ich in der goldenen Wiege schlafe. Und – was wäre dann gewesen? Der Kalif hätte mich doch getötet.»
«Ich weiß nicht», sagte Zaiira. «Kalif Hisham tötet gar nicht so gern.»
Doch Dshirah schüttelte den Kopf.
«Er hätte es getan! Wenn seine Richter und Gelehrten das Urteil fällen: das ist nicht die Siebte Sage, dann wird das Kind mit den sechs Zehen getötet. Und seine Familie dazu. Damit wieder ein Kind mit sechs Zehen geboren werden kann. Meine Eltern haben mir das alles erzählt.»
«Ja», meinte Zaiira, «aber vielleicht hättest du ja doch … Und Armei dan Hasud hat gesagt …»
«Nein!», Dshirah schüttelte heftig den Kopf. «Ich bin nicht das Dshinnu aus den sechs Geschichten. Ich habe sechs Zehen, na und? Wir Barden glauben das alles nicht.»
«Und was glaubt ihr?»
«Das wirst du doch wissen.»
«Nein! Dshirah, ich gehe auf eine araminische Fürstenschule. Von den Barden erzählen sie uns nichts.»
«Ah», sagte Dshirah, «so.»
Und dann sprudelte es aus ihr heraus.
«Die Sieben Sagen sind unsere Geschichten! Nicht eure! Ihr habt sie uns gestohlen wie unser Land. Ihr habt alle unsere Bücher zerstört. Dabei ist die Siebte Sage verschwunden. Und viele Jahre konnten wir nichts von unseren Geschichten erzählen, bis alles vergessen war. Dann endlich haben die Araminen gemerkt, dass Barden auch Menschen sind. Kalif Obajan war ein gerechter Herrscher. Und seitdem geht es uns hier gut, und sechs Geschichten von den sieben hat man gefunden. Aber die siebte Geschichte ist weg. Und dass ein Kind mit sechs Zehen kommt und nur weil es in einer goldenen Wiege beim Kalifen aufwächst, dann mit sieben Jahren diese Sage erzählen kann, das ist Unsinn, Zaiira, Unsinn!»
«Leise. Bitte», sagte Zaiira, «nicht so laut.»
«Mein Vater», murmelte Dshirah, «mein Vater meint, das ist nur, weil die Richter nicht wissen, wie sie ein – was für ein Todesurteil sie sprechen müssen. Es gibt da kein Gesetz. Darum soll das Dshinnu das machen. Die Siebte Sage erzählen, und dann haben sie ihr Gesetz. Das kann ich nicht. Das will ich nicht!»
Zaiira setzte sich neben Dshirah auf die Bank. Beide schauten in den Patio, aber Dshirah sah nichts, nicht das Rosentor, nicht die Pomeranzenbäume, auch nicht zwischen den Lorbeerbäumen die Fontänen des Brunnens, bunt gefärbt von Blumen und Fliesen.
«Aber Geschichten vergisst man doch nicht», sagte Zaiira. «Man erzählt sie weiter und immer weiter, auch wenn keine Bücher da sind. Das ist doch bei uns genauso.»
«Ja …», Dshirah zögerte, «ja … du weißt nicht viel von euch, Zaiira, sie erzählen euch in eurer Schule nichts von uns und nicht viel von euch. Aber wir reden ja auch nicht gern davon.»
«Wovon? Komm! Sag es mir!»
Aber Dshirah schüttelte den Kopf: «Meine Mutter sagt immer, ich soll das keinem araminischen Kind erzählen. Wir leben gut jetzt hier mit euch. Meine Mutter meint, das müssten die Araminen ihren Kindern selber sagen.»
Zaiira drängte nicht mehr.
«Mein Vater wird es tun, wenn es richtig ist», flüsterte sie. «Er hat mir beigebracht – du, jetzt verrate ich dir ein Geheimnis –, er hat mir gesagt, ich soll immer, wenn ich einen Barden begrüße, mit dazu denken: ‹Und ich bitte dich, verzeih mir.› Aber er hat mir nicht gesagt, warum.»
Die beiden Mädchen schauten sich an. In Zaiiras Blick lag eine Bitte. Dshirah nickte und hielt der Freundin die offene Hand hin. Zaiira legte einen Zeigefinger auf Dshirahs Handgelenk und suchte, bis sie den Puls fühlte. Da schloss sie die Augen. Sie saßen reglos, bis sie beide spürten, dass ihre Herzen im gleichen Takt und Rhythmus schlugen. Das war ein alter bardischer Brauch für Herzensfreunde. Niemand wusste, ob er aus uralten Zeiten stammte und im Gegensatz zu den Büchern nicht hatte zerstört werden können, oder ob er entstanden war, als die Araminen die Barden so schlimm unterdrückten.
Die beiden Mädchen nahmen ihre Hände wieder zu sich, und die schreckliche graue Blässe unter Zaiiras dunkler Haut war verschwunden.
«Du musst nach Hause», sagte sie. «Komm!»
Gemeinsam sprangen sie durch den Patio über knisternden Kies, über farbige Mosaike. Sie liefen durch den hinteren Teil des Hauses, wo die Verwalter und Diener wohnten, und wieder hinaus, nun auf sandigen Wegen, in die Dshirahs Absätze das Zeichen des Hauses Al-Antvari drückten. So hüpften sie am Reitplatz vorbei, wo ein paar Jungen mit den dreijährigen Fohlen übten, ruhig auf einem Fleck zu stehen. Als die Mädchen vorbeirannten, sprangen fünf junge Pferde zugleich in die Luft, schnaubten, prusteten, quietschten, buckelten, stiegen.
Zaiira legte einen Arm um Dshirahs Schulter.
«Wahrscheinlich hast du recht», zischte sie der Freundin ins Ohr. «Wenn Kalif Hisham wüsste, dass du sechs Zehen hast – er ahnt es nicht! Liebe Sonne, Dshirah, er ahnt es nicht, und ich weiß es! Ich glaube, er würde dich sofort den Rechtsgelehrten geben, damit sie aus dir herausquetschen, ob man die zum Tode Verurteilten nun hängen oder köpfen soll.»
«Das könnte ich ihnen sogar erzählen», sagte Dshirah. «Dazu brauche ich die Siebte Sage nicht. Ich weiß ja, dass sie aus unserem Volk kommt. Wenn wir die Siebte Sage fänden, würde die grässliche Köpferei endlich aufhören.»
«Ich glaube nicht, dass die Gehängten schöner sind», sagte Zaiira.
«Immerhin sind die Köpfe noch dran», meinte Dshirah.
Zaiira blieb stehen.
«Hast du mal einen gesehen?», fragte sie atemlos.
«Liebe Sonne nein!!!» Dshirah schüttelte sich. «Einen Toten! Nie!»
Sie liefen weiter und erreichten die Stallungen. Von hier konnte Dshirah über die Ebene laufen, ohne von der Stadt aus gesehen zu werden.
«Kann ich deine Sandalen haben?», fragte sie. «Es ist doch besser als nichts, und mein rechter Fuß tut mir weh. Kein Kind in Al-Cúrbona ist das Barfußlaufen so wenig gewöhnt wie ich.»
«Natürlich kriegst du die Sandalen. Aber nicht zum Laufen. Ich gebe dir Dshalla.»
Dshirah blieb stehen.
«Das kannst du nicht wagen. Ich kann sie heute nicht mehr zurückbringen.»
«Du lässt sie einfach bei der Herde. Sie fällt zwischen den wilden Stuten nicht auf. Und morgen bringst du sie СКАЧАТЬ