Название: Zucker im Tank
Автор: Andreas Zwengel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783962860226
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Ganz im Gegensatz zu Rolf Berger, der nie zufrieden war, selbst wenn er etwas durchsetzen konnte. Berger war unsachlich, uneinsichtig und unbelehrbar. Er hatte zu jedem Thema eine Meinung und berief sich auf Fakten, die stets völlig falsch waren. Wie bei so vielen anderen war es Unkenntnis gepaart mit Überheblichkeit, die ihn gegen vernünftige Argumente immun machte. Sein Gegenstück in Östrogen war Judith Kemmer. Sie war die beste Freundin von Garths Frau, neben ihr die berühmteste Person Ginsbergs und ¡ aus für Garths unerfindlichen Gründen ¡ Mitglied der Gemeindevertretung. Unwissend, uninteressiert und arrogant zog sie jede Sitzung dadurch in die Länge, dass sie am Ende einer Diskussion entsetzlich dumme Fragen stellte oder noch einmal alles wiederholte. Ihre Popularität im Ort verdankte sie ihrem Stellenwert als Schriftstellerin. Was eine tolle Sache war, wenn man keines ihrer Werke gelesen hatte.
Garth senkte den Blick auf den Tisch vor sich, dann schwenkte er erneut über die Gesichter. Diesmal sehr viel schneller. Idiot. Opportunist. Schwächling. Langweiler. Arschloch. Noch ein Idiot. Quertreiber. Superzicke. Die Vertreter von Ginsberg. Sie redeten sich die Köpfe heiß und Garth sah ihnen dabei zu. Er hatte bei jedem einzelnen von ihnen Gründe gehabt, ihnen einen Platz an seiner Tafel zu verschaffen. Profilierungssüchtige Figuren wie Berger und Dorn waren im Ort durch ihre Vereinstätigkeit bekannt genug, um ausreichend Anhänger hinter sich zu scharen. Garth hatte Amsel berufen, um seine Popularität im Ort zu nutzen, und Krabbe, um der Gemeindevertretung einen seriösen Anstrich zu verschaffen. Ebenso Lehrer Bach, der nie sonderlich auffiel und wohl auch in Gedanken lieber fischen ging. Judith Kemmer war für ihn persönlich eine Fehlentscheidung, weil sie ihm furchtbar auf die Nerven ging, aber sie wirkte wohltuend auf das Ego von Berger und Dorn, die sich ihr gegenüber überlegen fühlen konnten. Solange die beiden mit frauenfeindlichen Gedanken beschäftigt waren, konnten sie nicht auf andere Weise Schaden anrichten.
Garth betrachtete die sich heiser quasselnde Versammlung mit ausdrucksloser Miene und verriet durch keinen Aspekt seiner Körpersprache, wie er das Schauspiel bewertete. Und das war auch gut so. Die Stimmungspalette im Raum reichte von verzweifelt bis aggressiv. Der Hauptpunkt war die Auswirkung des Drogenskandals auf den Ruf des Ortes und die Wirtschaft. Garth konnte die Aufregung verstehen. Jahrzehntelang hatte Ginsberg vor sich hingedümpelt. Längst hatte man sich damit abgefunden, dass der Ort niemanden durch seine attraktive Infrastruktur anzog und auch für Pendler völlig uninteressant war, da Autobahnen in jede Richtung mindestens dreißig Kilometer entfernt lagen. Doch dank Garths Wirken als Bürgermeister gab es heute in Ginsberg alles, was man für das alltägliche Leben brauchte. Der Ort besaß einen Supermarkt, einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Tankstelle mit Postfiliale (genauer gesagt, ein Schalter, der nicht größer war als eine Kinderpost), einen Friseur, ein Autohaus mit Werkstatt, zwei Gastwirtschaften und eine Bank. Es gab einen Fußballplatz und einen Tennisplatz. Für so ziemlich jede Beschäftigung hatte man einen Verein gegründet. Diese Perle ländlicher Lebensart sollte das Traumziel jedes großstadtgeschädigten, nach Ruhe und Geborgenheit suchenden Menschen sein, der fernab von Hektik, Lärm und Verbrechen neues Lebensglück suchte. Und nun diese Katastrophe.
Die Tür des Konferenzraums öffnete sich und Villeroy kam herein. Mit seinem üblichen unverbindlichen Lächeln auf den Lippen nahm er auf einem Stuhl neben der Tür Platz. Garth hätte am liebsten die komplette Gemeindevertretung vor die Tür gesetzt und stattdessen den sicherlich wichtigen Informationen seines Anwalts gelauscht. Er merkte, dass Stephan Bach mit ihm redete, entschuldigte sich und bat ihn, das Gesagte noch einmal zu wiederholen. Bach trug noch seine Angelklamotten und sah überhaupt nicht ein, weshalb er seine schlechte Laune verbergen sollte, immerhin hatte man ihm den Vormittag verdorben. “Ich sagte, jetzt werden mir die Kollegen von der Opposition wieder unter die Nase reiben, dass sich gerade meine Partei in der Vergangenheit für die Freigabe weicher Drogen starkgemacht hat.“
“Stimmt das etwa nicht?“, warf Günther Dörr, der Pächter der Tankstelle, ein.
“Alkoholiker haben ja genug Bezugsquellen“, entgegnete Bach kühl und sah zu, wie Dörrs ohnehin dunkles Gesicht noch röter wurde. Die inoffizielle Kneipe in seiner Tankstelle, wo sich einige Dorfbewohner schon am frühen Morgen zum ersten Bier einfanden, war ein offenes Geheimnis. Das hieß aber noch lange nicht, dass Dörr sich diese Tatsache von jedem unter die Nase reiben ließ. Er sprang auf und beugte sich über den Tisch. “Was soll das denn heißen? Ich glaube, dem Herrn Lehrer ist die viele Freizeit aufs Gehirn geschlagen.“
“Immerhin habe ich mehr als ein trockenes Brötchen im Kopf.“
“Keine Scherze über Backwaren“, versuchte Bäcker Amsel einen ebensolchen. Aber niemandem war zum Lachen zumute.
Garth bedachte die Streithähne mit einem Blick, der so viel besagte wie: Wird das heute noch was? Die Gemeindevertretung entglitt ihm. Noch vor einem Jahr wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen. Schon allein wegen Viktors Anwesenheit. Das Höchstmaß an Widerspruch stellte damals die freundliche Bitte an Garth dar, seine Position noch einmal zu überdenken. Heute musste er Drohungen und sogar Kompromisse einsetzen, um die Meute ruhig zu halten. Sie lauerten wie hungrige Raubtiere, um sich bei der geringsten Schwäche auf ihn zu stürzen. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch. “Setz dich hin, Günther, alter Sülzkopf.“
Dörr setzte sich tatsächlich und brummelte dabei Unverständliches.
Berger erhob sich und allen Anwesenden war klar, was jetzt kommen würde. “Als Trainer der Fußballmannschaft darf ich daran erinnern, dass unsere Jungs heute gegen die Deppen aus Weinsee antreten sollen. Aber unsere Besten liegen flach, das wird eine böse Schlappe. Die werden uns vom Platz fegen.“
“Wir haben doch Ersatzspieler“, sagte Krabbe und wurde dafür von Berger mit einem Blick bedacht, der ihn mit gesenktem Blick verstummen ließ.
“Finn Schneider, um nur ein Beispiel zu nennen“, fuhr Berger fort. “Reaktionsschnell und trickreich. Er rennt neunzig Minuten, ohne die Puste zu verlieren, und springt über gegnerische Spieler einfach drüber. Der Junge hat mal einen Lederball quer durch die Turnhalle getreten und damit noch im Flur bei den Umkleidekabinen ein Sicherheitsglas eingedrückt. Und das Beste ist, er hat dabei nur Socken getragen. Für so jemanden gibt es keinen Ersatz.“
“Wie kann man in einer solchen Situation über eine so unwichtige Sache wie Fußball reden“, mischte sich Bach ein.
“Unwichtig? Ich hör wohl schlecht. Nach dem Debakel vom letzten Jahr hängt eine ganze Menge von diesem Spiel ab. Aber warum erzähl ich das eigentlich? Was weißt du schon von Fußball?“
“Wir teilen eben nicht alle Ihre Interessen“, sagte Bach überheblich. Er hatte Berger schon vor Jahren das Du entzogen, wovon dieser sich allerdings nicht beeindrucken ließ. Und daran halten würde er sich schon gar nicht.
“Deine Interessen kennen wir alle zur Genüge, der Fischgeruch lässt einen ja rückwärts die Wände hochgehen.“
“Und wieder eine gewohnt unqualifizierte Bemerkung von Herrn Berger“, erwiderte Bach beleidigt. Er hatte sich in seinem Keller eine kleine Räucherkammer eingerichtet und entwickelte dort neue Fischrezepte. Viele Nachbarn und Kollegen ließen sich von ihm beliefern, der Besitzer des La Cucaracha hatte sogar zwei seiner Rezepte in die Speisekarte aufgenommen. Aber das zählt ja bei diesen Ballproleten nicht, dachte er schmollend.
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