Название: Zucker im Tank
Автор: Andreas Zwengel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783962860226
isbn:
“Für dich immer.“
“Wo steht dein Wagen?“
Tibor wies zur Straße.
Felix hob eine Augenbraue. “Soll ja ein sehr sicheres Auto sein.“
“Ich bin eben ein vorsichtiger Mensch.“
Felix stieg in seinen Touareg und öffnete die Beifahrertür. “Steig ein, ich nehme dich das Stück mit.“
Tibor waren die unzähligen Dellen, Schrammen und Kratzer in der Karosserie des Wagens aufgefallen. Sein Freund schien das Fahrzeug nicht besonders pfleglich zu besitzen. Oder es gab Leute im Ort, die an dem Wagen ihren Unmut über den Besitzer ausließen. Er schwang sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Sicher vor einer plötzlichen Ladung Löschschaum zündete er sich seine Zigarette an und hielt Felix die Schachtel hin. Der schüttelte den Kopf und ließ den Motor an. Felix hatte längst mit den meisten lieb gewonnenen Trostspendern seiner Jugend gebrochen. Vorsichtig lenkte er seinen Wagen langsam zwischen den nachströmenden Schaulustigen hindurch zur Straße.
Tibor sah sich nach allen Seiten um und war überrascht, wie herausgeputzt Ginsberg wirkte. Er hatte sich vor seiner Heimreise über Ginsberg informiert. Da er zu niemandem Kontakt gehalten hatte, besaß er keine Informationen aus erster Hand. Er hatte den Ort schon vor langer Zeit im Rückspiegel gelassen, und die Gefühle, die die Fahrt durch Ginsberg in seiner Magengegend auslösten, waren mehr als gemischt. Sie weckten Erinnerungen in ihm, die er längst verschüttet geglaubt hatte. Tibor besaß genügend Vorurteile über das Landleben, viele davon gewiss zu Recht, aber er beabsichtigte, sie für sich zu behalten, und wollte den Einheimischen nicht beweisen, dass sie stimmten. Entweder wussten sie es bereits oder wollten es nicht hören. Umso mehr staunte er, wie gut ihm die Örtlichkeiten im Gedächtnis geblieben waren. Der Brunnen, an dem sich seinerzeit die Dorfjugend getroffen hatte. Dort, wo jetzt fünf Parkplätze für die Sparkasse angelegt waren, hatte früher das Haus der Witwe Droste gestanden, die von ihrem Wohnzimmerfenster aus Bier an Jugendliche verkauft hatte. Auf dem Spielplatz hinter der Kirche hatte Tibor sich mit neun Jahren den Arm gebrochen, weil ihn ein Konkurrent in der Gunst von Silke Beck von der Rutsche stieß. Wie viele Abende hatte er am Fluss verbracht und mit anderen Ahnungslosen vermeintlich tiefgründige Gespräche geführt? Und erst die dämlichen Mutproben. Einmal musste Tibor sich die Haare abrasieren, weil er es nicht schaffte, mit seinem Mofa auf einer selbst gebauten Rampe über die Lahn zu springen. Neben dem Verlust der Haare hatte ihn damals am meisten der Anblick des versinkenden Mofas geschmerzt, und er äußerte in den folgenden Jahren mehr als einmal den Wunsch, Felix hätte lieber das Mofa retten sollen, anstatt ihn aus dem Wasser zu ziehen.
“Sollen wir kurz hier halten?“, fragte Felix.
“Wieso?“
“Das ist euer ehemaliges Haus. Garths Anwalt hat inzwischen seine Kanzlei darin.“
“Gott ja, und? Das ist ein Haus, in dem ich mal gewohnt habe. Seitdem habe ich in sehr vielen Häusern gewohnt, das heißt aber nicht, dass ich sie regelmäßig besuche.“
Tibors Ablehnung war so schroff, dass Felix ihn erstaunt ansah. “Du willst es nicht mal sehen?“
“Wozu?“
“Was weiß ich? Vielleicht um Erinnerungen aufzufrischen.“
“Nicht nötig“, sagte Tibor bestimmt. “Meine Eltern haben es verkauft, also hingen sie wohl auch nicht allzu sehr daran.“
Heimat. Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und schmeckte den Kitsch, der darin mitschwang. Doch ganz kalt ließ es ihn nicht. Neunzehn Jahre in diesem Ort waren mehr als die nüchterne Zahl. Jahrelang hatte er Ginsberg aus der Ferne verdammt, den steigenden Blutdruck bei der leisesten Erwähnung ländlicher Lebensart gespürt. Er hatte danach nie mehr in einem Ort mit weniger als hunderttausend Einwohnern gelebt. Er brauchte die Anonymität. Und wenn Geschäfte über Mittag schlossen, kam er sich wie in einer Geisterstadt vor.
“Ich habe noch nicht gefrühstückt. Wie steht es mit dir?“, schlug Felix vor. “Ich hoffe, du magst mexikanische Küche.“
“Gerne sogar.“
“Du hast wahrscheinlich schon überall auf der Welt gegessen, aber Antonios Küche stellt eine Herausforderung für jeden Gaumen dar.“
“Das klingt wie eine Warnung.“
Kapitel Vier
Die Wahl zum Bürgermeister hatte Garth zu Beginn als eine reine Formsache betrachtet. Sein Vorgänger war berühmt gewesen für seinen vollständigen Mangel an Führungsqualitäten und Geschäftssinn. Der Mann hatte seine politische Ausrichtung am jeweiligen Gesprächspartner orientiert, um möglichst wenig Aufregung in seinem Amt zu haben. Garths erste Amtshandlung als Bürgermeister hatte darin bestanden, die Gemeindevertretung nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Er spielte die einzelnen Parteien gegeneinander aus, bis sich die meisten schmollend zurückzogen. Jeden potenziellen Gegenkandidaten drangsalierte er lange genug, bis er sich ein anderes Hobby suchte. Die Gemeindevertretung wurde rasch zum Scheinkabinett. Die wenigsten Mitglieder waren glühende Bewunderer von Garth, aber keiner von ihnen stellte einen ernst zu nehmenden Gegner dar, der sich seinen Wünschen widersetzen würde.
Die Gemeindevertretung hatte sich um den großen Tisch im Konferenzraum versammelt. Gewöhnlich tagten sie am letzten Donnerstag jeden Monats und nur mit dreitägiger Voranmeldung, doch an diesem Tag hatten sich die acht Mitglieder vor Garths Bürotür versammelt, bevor er zum Telefonhörer greifen konnte. Bürgermeister Garth blickte in die Runde. Links von ihm saß Max Krabbe, der Arzt des Dorfes, der wegen seiner Freigiebigkeit bei Krankheitsbescheinigungen den Spitznamen Doc Holiday führte. Er war ein Fachidiot und außerhalb seiner Praxis nur begrenzt lebensfähig, aber auch nützlich, da er die ärztliche Schweigepflicht großzügig auslegte und jede Information an Garth weitergab, nach der dieser verlangte. Krabbe wollte sein Kumpel sein und biederte sich aufs Schamloseste bei Garth an.
Neben dem Arzt saß Lehrer Bach, der seine Redebeiträge gerne durch beispielhafte Verhaltensweisen Achtjähriger belegte und gewohnheitsmäßig auf die Bundespolitik abschweifte. Besonders seit Pisa nicht mehr nur eine Stadt in Italien war, die einige glücklose Turmbauer angezogen hatte. Ansonsten war er froh, wenn man ihn in Ruhe angeln ließ. Wer ihn dabei störte, stellte schnell fest, dass er nicht halb so freundlich war, wie er wirkte. Denn Bach lächelte nur deshalb so viel, weil seine Zähne zu groß für seinen Mund waren und er die Lippen kaum über den Zahnreihen schließen konnte.
Rudolf Kernstein war Autohändler. Genau genommen verkaufte er die Autos in Garths Autohaus und war in jeder Hinsicht abhängig von seinem Chef, bei dem er immense Schulden hatte. Mindestens genauso abhängig war er vom Alkohol, der seine Hilflosigkeit noch verstärkte. Ein trauriger Fall. An der Ecke des Tisches saß Hellmuth Ziegler, der sich vom ersten Marihuanatrip seines Lebens erholte. Für gewöhnlich ein kompetenter, verlässlicher Mann, der politisch völlig unbelastet war und in ihrer Runde gerne die Stimme des kleinen Mannes vertrat. Genauso wie Dörr, der Garth am anderen Ende des Tisches gegenübersaß. Im realen wie im übertragenen Sinne. Dabei setzte er sich nur für die Themen ein, die ihn unmittelbar betrafen. Alle anderen interessierten ihn nicht. Günther Dörr war cholerisch, streitsüchtig und nahm immer eine Gegenposition ein. Er sammelte Feindschaften wie andere Leute Münzen, Briefmarken oder gebrauchte Damenunterwäsche.
Kurt Amsel, der Bäcker, war harmlos, naiv und gutmütig. Er СКАЧАТЬ