Название: Mir kann doch nichts geschehen ...
Автор: Marianne Brentzel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: blue notes
isbn: 9783869151120
isbn:
blue notes
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Als die erste Else-Ury-Biografie Nesthäkchen kommt ins KZ erschien, erschütterte ihr Schicksal zahllose Menschen. Else Ury – die Bestseller-Autorin der beliebten Nesthäkchen-Serie – war Jüdin und wurde 1943 in Ausschwitz ermordet.
In ihrer zweiten Annäherung an Else Ury beleuchtet Marianne Brentzel das Schicksal der Nesthäkchen-Autorin im Spannungsfeld zwischen der heilen Welt ihrer Jugendbücher und der grausamen historischen Realität wie auch zwischen jüdischer Tradition und deutscher Kultur. Ihre Biografie ist nicht nur ein höchst aufschlussreiches Porträt einer innerlich zerrissenen Persönlichkeit, sondern gewährt kenntnisreiche Einblicke in die Lebenswelten des jüdischen Bürgertums und entfaltet anschaulich das Panorama einer ganzen Epoche – von der Kaiserzeit bis zum Dritten Reich.
Marianne Brentzel, geboren 1943, wuchs in Bielefeld auf, studierte Politische Wissenschaften in Berlin und nahm aktiv an der Studentenbewegung teil, die sie in ihrem Roman Rote Fahnen – Rote Lippen kritisch beleuchtet. Vor allem aber verfasste sie Biografien eigenwilliger Frauen wie über die DDR-Justizministerin Hilde Benjamin oder die Mussolini-Geliebte Margherita Sarfatti. Marianne Brentzel, die in Dortmund lebt, wurde 2014 für ihr literarisches Werk mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.
Prolog
Ein kleiner schwarzer Koffer.
Ein Ausstellungsstück, beschriftet mit weißer Farbe: ›Else Sara Ury Berlin Solingerstr. 10‹. Zu sehen in der Gedenkstätte der Wannseekonferenz zum Völkermord an den europäischen Juden.
Von Zuhaus nach irgendwo wird der Koffer reisen. Weisungsgemäß mit Name und Adresse versehen, fertig gepackt. Alles muss bereit sein. Vor allem der Koffer. Die Anweisung vom Reichssicherheitshauptamt ist zugestellt. Die Liste mit den Kleidungsstücken: Hemden, Socken, Unterhosen. Anzahl und Art sind genau festgelegt. Sie wird den Koffer nehmen, in den Abendstunden, wenn der Lastwagen sie abholt, um sie in die Deportationssammelstelle zu bringen. Von dort wird es zum Bahnhof Putlitzstraße in Moabit gehen, in den frühen Morgenstunden, in Kälte und Dunkelheit.
Der Koffer wird mit mehr als tausend anderen im Kofferwaggon landen, dann in einem Lagerraum von Auschwitz, ausgeleert, der Inhalt entwendet. Man wird ihr alles nehmen. Erst den Koffer, dann das Leben.
Sie seufzt und packt. Im Osten soll es kalt sein, sehr kalt. Warum stehen weder Wintermantel, Schal noch Handschuhe auf der Liste? Gehören sie nicht zu den erlaubten Dingen, die sie brauchen wird? Von Zuhaus nach irgendwo wird sie gehen.
Es klingelt. Ein Lastwagen mit laufendem Motor steht vor der Tür. Sie nimmt den Koffer und geht los. Aus der Solingerstr. 10, dem Judenhaus, in dem sie seit 1939 wohnt. Im Lastwagen stehend, sich aneinander festhaltend, zur Deportationssammelstelle, einst Altenheim der Jüdischen Gemeinde. Große Hamburger Straße 26 heißt die Adresse. Und dort? Wird sie lange warten müssen auf den Weitertransport? Nicht darüber nachdenken.
Zurückdenken. Der erste Gang in die Synagoge. Gelöste, feierliche Stimmung in der Heidereutergasse damals. Mit der Mutter ging sie durch den Torbogen, tauchte in die Dunkelheit des Vorraumes ein, stieg zur Frauenempore hinauf. Eine Welt voller fremdartiger Gerüche und wunderbares Licht umgaben sie. Einsamkeit und Todesangst umgeben sie jetzt. Da sind keine schützenden Hände mehr. Da sind Greifhände, denen alles erlaubt ist: die alte Jüdin blutig schlagen, töten. Nur nicht daran denken. Weit zurückdenken. Synagoge. Vater. Mutter. Licht. Duft. Sprechender Singsang. Frauen, die sie herzen und streicheln, ihr Süßigkeiten zustecken, bereitwillig Platz machen, um sie an die Balustrade zu lassen. Den Vater will sie sehen unter den betenden Männern und Knaben, die weiße Mäntel und silberschimmernde Tücher umgelegt haben. Rhythmischer Wechselgesang ist zu hören, der alte, bärtige Mann fährt mit dem riesigen Thora-Zeiger über eine große Rolle.
Schön war es damals.
Heute ist die Welt dunkel und kalt. Nichts mehr, was einst ihr Leben lebenswert machte. Parkbänke – für Juden verboten! Wälder – für Juden verboten! Die öffentlichen Verkehrsmittel – für Juden verboten!
Seit Tagen dreht sich alles nur um Listen. Sie hat sie ausgefüllt und unterschrieben: ›Else Sara Ury‹.
Letzte Nacht hat es geschneit. Das macht keine Freude mehr. Weiß wie Schnee – das war in den Märchen, als sie ein Kind war, im Grunewald, im Riesengebirge. Krummhübel-Welten entfernt.
Zurückdenken. Die Veranda im Haus Nesthäkchen, blühender Weißdorn, im Liegestuhl schreiben, frei atmen, die herrlich frische Luft nach den kurzen Gewittern. Weiter zurück: Ostseestrand, die kleinen frechen Jungen, die davonlaufen, braun oder blond – Kindersorgen. Ihre Tränen und die Arme des Fräuleins, sie schützend und liebkosend. Die Erinnerung füllt sie für eine kurze Zeit aus. Dann fällt die nahe Zukunft sie wieder an.
Die Handtasche mit den Papieren hat sie fest an sich gepresst. Links, dort, wo der Stern aufgenäht ist, mit winzig kleinen, ordentlichen Stichen. Der Herzschlag geht mal rasend, mal schleppend gegen das aufgenähte Zeichen. Sie ist da. Große Hamburger Straße 26. Ein Davidstern ist auf die Tür geschmiert. Jüdische Ordner mit weißen Armbinden helfen den Ankommenden aus dem Lastwagen. Von Zuhaus nach irgendwo wird es weitergehen. Else Ury, geboren am 1. November 1877. Es ist der 6. Januar 1943.
Vorwort
»Zeitzeichen. Stichtag heute: 13.1.1943. Todestag der Jugendbuch-Schriftstellerin Else Ury.« Ich sitze im Auto auf dem Weg zur Arbeit und höre Radio. Der Name Ury ist mir vertraut wie der Geschmack von Grießbrei aus meiner Kindheit. Nesthäkchen. Ich höre die Stimmen aus dem Radio, ich sehe die stolze Serie von neun Bänden in meinem Bücherschrank vor mir. Eine Altmännerstimme sagt: »Mir wurde in Amsterdam ein letzter Brief meines Vaters übergeben und da wurde berichtet, dass meine Tante am 6. Januar 1943 von der Gestapo verhaftet worden war. Wir wussten aber aus Dokumenten später, dass sie am 12. Januar nach Auschwitz deportiert wurde, also war sie anscheinend sechs Tage im Sammellager in Nord-Berlin, bevor sie in die Viehwagen nach Auschwitz kam.«
Ich fahre den Wagen an den Straßenrand. Kein Wort will ich verpassen. Das Gehörte ist mir neu, erschüttert und verwirrt mich. Der Name Else Ury war fest in meinem Gedächtnis haften geblieben, über dreißig Jahre lang, unbelastet und geschichtslos. Else Ury – eine Jüdin? Else Ury – Opfer des Völkermordes in Auschwitz? Dass die Vergangenheit uns immer wieder einholt, wusste ich bereits, aber so konkret hatte ich es selten erfahren.
Mit diesem Bericht leitete ich 1992 meine Else-Ury-Biografie Nesthäkchen kommt ins KZ. Eine Annäherung an Else Ury ein. Für mich war die Zeitzeichen-Sendung im Januar 1988 der Beginn einer intensiven Beschäftigung mit Else Ury. Zuerst nahm ich Kontakt zu Klaus Heymann, dem Alleinerben und Neffen Else Urys auf. Daraus wurde eine Freundschaft, die bis heute andauert. Klaus Heymann gab mir bereitwillig viele nützliche Hinweise, schenkte mir Familienbilder, überließ mir Briefe und Zeugnisse aus dem Leben Else Urys.
Das Echo auf das Erscheinen meines Buches war überwältigend. Offensichtlich waren Else Urys Bücher, insbesondere die Nesthäkchen – Serie, für die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen der Frauen ein Teil ihrer Identität und die Erschütterung über Else Urys Tod in Auschwitz groß. Seitdem wurde weiter über Else Urys Leben und Werk geforscht, Ausstellungen wurden entwickelt, neue Erkenntnisse gewonnen. In Berlin trägt eine Kinder- und Jugendbibliothek ihren Namen, am Savignyplatz gibt es inzwischen einen Else-Ury-Bogen. Noch heute ist auf dem restaurierten jüdischen Friedhof in Tangermünde ein Grabstein der Vorfahren mit der verwitterten Inschrift ›Treudel geb. Ury‹ zu sehen. An ihrem Ferienhaus in Karpacz, vormals Krummhübel, ist eine Plakette zum Gedenken an Else Ury in deutscher und polnischer Sprache СКАЧАТЬ