Название: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik
Автор: Arthur Rosenberg
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: eva digital
isbn: 9783863935061
isbn:
Die Regierung hätte zwei Möglichkeiten gehabt, um die Lage zu meistern. Entweder eine brutale Unterdrückung der Sozialdemokraten im Stile Bismarcks. Aber dazu hatte nach 1890 niemand den Mut. Oder eine Politik des Kompromisses, die zunächst dem Bürgertum den Anteil an der Macht erweiterte, und dann von der neuen Grundlage aus eine Verständigung mit den Arbeitern suchte. Wilhelm II. und seine Reichskanzler Caprivi, Hohenlohe und Bülow schlugen keinen der beiden Wege ein, sondern ließen einfach die Dinge laufen. Da stellte der historische Zufall in den Jahren 1906 bis 1908 noch einmal die Schicksalsfrage an das alte System Deutschlands.
Es kam im Jahre 1906 im Reichstag wegen einiger Personalfragen der Kolonialverwaltung zu einem Konflikt zwischen dem Fürsten Bülow und dem Zentrum. Damals stand an der Spitze der Kolonialverwaltung der frühere Berliner Bankdirektor Dernburg. Die Berufung eines liberalen Finanzmannes auf eine hohe Reichsstelle war als Zugeständnis an das Bürgertum empfunden worden. Darum genoß Dernburg bei seinem Streit mit dem Zentrum die Sympathien der Nationalliberalen und der Fortschrittler im Reichstag und aller bürgerlichen liberalen Kreise im Lande. Bei der ganzen Angelegenheit hatte das Zentrum nicht die Absicht, einen prinzipiellen Kampf mit der Regierung zu beginnen. An der Kritik der Kolonialverwaltung war auch Erzberger beteiligt. Aber den Hauptstoß führte der Abgeordnete Roeren, der durchaus der konservativen Führergruppe des Zentrums zuzurechnen war.
Als das Zentrum mit seinen Personalwünschen nicht durchdrang, lehnte es einen Teil der Geldforderung der Regierung für die Schutztruppe in Südwestafrika ab. Da die Sozialdemokraten sich dem Zentrum anschlossen, fand die Forderung der Regierung im Reichstag keine Mehrheit. In Südwestafrika fanden damals Kämpfe mit aufständischen Eingeborenen statt. Die Regierung erklärte, daß die Truppenstärke, die das Zentrum für Südwestafrika bewilligen wollte, zur Unterdrückung des Aufstandes nicht ausreiche. Wie kam es zu der Zuspitzung des Konflikts zwischen Bülow und dem sonst so befreundeten Zentrum?
Mit ganz unbedeutenden Zugeständnissen hätte Bülow das Zentrum befriedigen können. Aber der hohen Reichsbürokratie war selbst die geringe Bindung an das Parlament, wie sie durch die Stellung des Zentrums im Reichstag sich ergab, nicht erwünscht. So benutzte Bülow die Gelegenheit, um in einer »nationalen« Frage den Kampf mit Zentrum und Sozialdemokraten aufzunehmen. Der Reichstag wurde aufgelöst. Die konservativen Gruppen, die Nationalliberalen und die Fortschrittler vereinigten sich als »Block«, um bei den Wahlen eine Mehrheit ohne das Zentrum zustande zu bringen. Bei den Wahlen 1907 behauptete sich das Zentrum. Die Sozialdemokraten dagegen verloren die Hälfte ihrer Mandate. Die Sozialdemokraten hielten zwar ihre Stimmenzahl von 1903, aber die Gegner zogen aus den politisch Indifferenten solche Verstärkungen, daß die Sozialdemokraten zirka vierzig Mandate einbüßten. Im neuen Reichstag hatten Konservative und Liberale zusammen eine sichere Mehrheit.
Wilhelm II. und Bülow waren durch eine Verkettung günstiger Umstände zur Kartellpolitik Bismarcks von 1887 zurückgekehrt. Bülows Front war sogar noch stärker. Bismarck hatte im liberalen Lager nur die Nationalliberalen auf seiner Seite, während Bülow in seinem Block auch auf die Fortschrittler rechnen konnte. Das gesamte liberale Bürgertum hatte sich der Regierung angeschlossen, nur weil man die Berufung Dernburgs und den Bruch mit dem Zentrum für den Beginn einer neuen Periode deutscher Politik hielt. Es kam jetzt alles darauf an, diese Hoffnung des Bürgertums nicht zu enttäuschen. Aber Bülow, der kein Staatsmann, sondern nur ein geschickter Taktiker war, dachte an keine ernsthafte Umgestaltung der deutschen Verfassung. Da gab das Schicksal dem Fürsten Bülow und seinen Blockparteien noch eine beispiellose Gelegenheit, Deutschland zu reformieren.
Das Jahr 1908 brachte die »Daily-Telegraph«-Affäre14. Wilhelm II. hatte in das genannte englische Blatt ein Interview lanciert, worin er seine Freundschaft für England beteuerte. Der Artikel enthielt, neben vielen anderen Betrachtungen, die folgenden Behauptungen des Kaisers: Die deutsche Flotte werde gar nicht gegen England, sondern gegen Japan gebaut. Als während des Burenkrieges Rußland und Frankreich an Deutschland die geheime Anregung richteten, gemeinsam gegen England vorzugehen, habe Wilhelm II. diesen Vorschlag abgelehnt und die ganze Angelegenheit in einem Brief der Königin Victoria von England mitgeteilt. Ja, als die englische Armee in Südafrika in gefährlicher Lage war, habe er, zusammen mit dem deutschen Generalstab, einen Kriegsplan ausgearbeitet, wie die Buren am besten zu schlagen seien. Der Kriegsplan wäre ebenfalls nach London gegangen und entspreche ungefähr den Operationen, mit denen später Lord Roberts die Buren besiegte. So habe er, Wilhelm II., gehandelt, und dennoch gelte er als Feind Englands.
Bevor Wilhelm II. den Artikel an den »Daily Telegraph« abgehen ließ, schickte er den Text dem Fürsten Bülow mit dem Auftrag, den Artikel durchzusehen und nötigenfalls Änderungen vorzunehmen. Bülow hat, wie er später versicherte, im Drang der Geschäfte den Artikel nicht selbst gelesen, sondern dem Auswärtigen Amt zur Prüfung übersandt. Das Auswärtige Amt schlug einige kleine Änderungen vor, war aber sonst mit der Veröffentlichung einverstanden. In diesem Sinne berichtete Bülow an den Kaiser, und der Artikel erschien mit den Änderungen des Auswärtigen Amtes am 28. Oktober in London.
Es war ein starkes Stück, daß das Auswärtige Amt einer derartig blamablen Veröffentlichung keinen Widerstand entgegensetzte. Das Auswärtige Amt hat nicht einmal die phantastische Geschichte von dem angeblichen Kriegsplan des Kaisers korrigiert, obwohl es nach seinen eigenen Akten dazu imstande gewesen wäre. In Wirklichkeit besaß das Auswärtige Amt eine Abschrift der Aufzeichnung, die Wilhelm II. am 4. Februar 1900 dem Prinzen von Wales, dem späteren König Eduard VII., übersandt hatte. Das waren »22 Aphorismen über den Krieg in Transvaal« aus der Feder Wilhelms II., gänzlich harmlose allgemeine Betrachtungen über die Kriegslage, aus denen der englische Generalstab nicht den mindesten Nutzen ziehen konnte. Es ist auch keine Mitarbeit des deutschen Generalstabs an den »Aphorismen« Wilhelms II. zu erweisen. Wilhelm II. hat also 1908, um seine England-Freundschaft zu beweisen, einen groben Gedächtnisfehler begangen. Der Respekt vor einem kaiserlichen Konzept war damals im Auswärtigen Amt so groß, daß die Beamten ernsthafte Änderungen nicht wagten. Oder waren sie politisch so ahnungslos, daß sie die Tragweite der Veröffentlichung nicht ermessen konnten? Daß Fürst Bülow den Artikel ungelesen weitergab, war eine Leichtfertigkeit; denn er mußte die Eigenart seines Herrn kennen. Die ganze »Daily-Telegraph«-Affäre ist ein klassisches Beispiel für die Art, wie Deutschland unter Wilhelm II. regiert wurde.
Als das Interview veröffentlicht wurde, entstand im deutschen Volke, von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten, eine beispiellose Entrüstung über den Kaiser. Der Mann, der autokratisch die Außenpolitik Deutschlands machte, hatte ohne jeden Grund Japan provoziert. Er hatte allen Mächten die Neigung genommen, an Deutschland irgendeine vertrauliche Mitteilung zu richten, und er rühmte sich endlich, einem kleinen, mit Deutschland befreundeten Volk durch seinen famosen »Kriegsplan« in den Rücken gefallen zu sein. Es zog die schwerste Krise über die deutsche Monarchie herauf, die vor 1918 eingetreten ist. Die Reichstagsdebatte am 10. und 11. November brachte eine Einheitsfront gegen den Kaiser. Fürst Bülow wagte es nicht, den Kaiser zu verteidigen, sondern schloß sich dem Wunsche nach größerer Zurückhaltung des Herrschers an.
Am 17. November hatte Bülow eine Audienz beim Kaiser. Wilhelm II. war über den Kanzler tief erbittert und menschlich mit Recht. Denn er hatte den Unglücksartikel dem Reichskanzler zur Prüfung übersandt und erst veröffentlichen lassen, als Bülow zugestimmt hatte. Damit hatte Bülow die verfassungsmäßige Verantwortung für das »Daily-Telegraph«-Interview. Ob Bülow den Text selbst gelesen hatte oder nicht, war gleichgültig. Trotzdem wagte Wilhelm II. angesichts der Volksstimmung nicht, Bülow zu entlassen. Sondern das Resultat der Unterredung zwischen Kaiser und Kanzler vom 17. November war eine Erklärung im »Reichsanzeiger«, worin Wilhelm II. versicherte, er wolle die »Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen СКАЧАТЬ