Название: Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945
Автор: Paul Schmidt
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: eva digital
isbn: 9783863935030
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Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Die Sitzungen jagten einander, im Plenum, in den Kommissionen und auch im Völkerbundsrat. Diese höchste internationale Instanz tagte damals in einer großen Glasveranda, die zum Hotel National gehörte, in dem das Völkerbundssekretariat seinen Sitz hatte. Etwas erhöht stand hier am einen Ende des länglichen Raumes der hufeisenförmige Ratstisch, an dem Stresemann einige Tage später zum ersten Male Platz nahm.
Im Innenraum des Hufeisens saßen die beiden amtlichen Dolmetscher des Völkerbundes, ein Engländer und ein Franzose, sowie die Stenographen. Die Verhandlungssprachen waren auch hier, wie in der Vollversammlung, Englisch und Französisch. Alles, was auf Französisch gesagt wurde, übersetzte der Engländer sofort ins Englische und umgekehrt. Das Übersetzungssystem war genau das gleiche, wie ich es zuerst im Haag kennengelernt hatte. Jeder Redner sprach so, als fände die Verhandlung nur in einer Sprache statt, ohne Unterbrechung, während der betreffende Dolmetscher sich möglichst genaue Notizen machte und dann die Rede in der Ichform, d. h. so, als spräche der Delegierte wörtlich noch einmal, die Ausführungen in die andere Sprache übertrug. Dieses System ermöglicht zweisprachigen Konferenzteilnehmern sofort eine Kontrolle des Dolmetschers. Gelegentlich kam es vor, daß einer der Delegierten, z. B. wie schon erwähnt, Chamberlain, den Dolmetscher unterbrach, wenn er seiner Ansicht nach diese oder jene Stelle nicht ganz richtig wiedergegeben hatte. Allerdings erfolgten solche Unterbrechungen verhältnismäßig selten, denn die Völkerbundsdolmetscher waren hervorragende Meister ihres Faches. Außerdem hatte der Völkerbund das gleiche System, für das auch Geheimrat Gautier bei schriftlichen Übersetzungen eintrat. Die Dolmetscher übersetzten immer nur in ihre Muttersprache. Insofern war für mich die Aufgabe schwieriger, da ich ja immer nur in eine fremde Sprache übersetzen mußte, denn es war natürlich nicht angängig; zur Übersetzung der oft hochpolitischen Ausführungen des deutschen Außenministers einen Ausländer zu verwenden.
Meine Lage war auch in anderer Hinsicht unbequemer als die der Völkerbundsdolmetscher. Ich konnte schon aus formellen Gründen nicht unter ihnen im Innenraum Platz nehmen, da ja Deutsch keine amtliche Verhandlungssprache war, sondern mußte mich auf ein kleines, sehr unbequemes Stühlchen hinter den jeweiligen deutschen Ratsdelegierten setzen. Mein Schreibpult mußte ich mir in Gestalt eines Aktenköfferchens, das ich auf die Knie legte, selbst mitbringen. Dazu kam, daß ich als kleines Anhängsel der Ratstafel mit meinem Stuhl in den schmalen Gang hineinragte, der hinter den Sitzen der Ratsmitglieder und unmittelbar vor den Stühlen der Sekretäre und Sachverständigen ausgespart war, so daß jeder Vorbeikommende über mich stolperte und ich für die Sekretariatsmitglieder, die dort oben zu tun hatten, immer ein Stein des Anstoßes war. Meine Arbeitsbedingungen waren daher noch ungünstiger als in Locarno.
Zudem herrschte bei den deutschen Ratsdelegierten vielfach immer noch die Theorie des „Sprachautomaten“. Sie machte sich während der Ratsverhandlungen für mich in besonders unangenehmer Weise bemerkbar, denn diese hatten niemals durchgehend ein und dasselbe Thema zum Gegenstand wie eine Konferenz, die zur Lösung eines ganz bestimmten Problems einberufen wird. Der Völkerbundsrat verhandelte an einem Vormittag oft die allerverschiedensten Dinge, vom Kampf gegen das Opium, von Mandatsfragen und Wirtschaftsproblemen bis zum Minderheitenschutz und zum Mädchenhandel. Der Delegierte am Ratstisch, d. h. meistens der Außenminister, wurde vor und während der Sitzung von den Sachreferenten genau informiert, während sie für mich im Drang der Geschäfte keine Zeit fanden und nur hinterher empört waren und behaupteten, ich hätte ihnen mit meiner unzureichenden Übersetzung in diesem oder jenem Punkt ihre Politik für ein ganzes Jahr durcheinandergebracht. Erst später setzte sich die Erkenntnis durch, daß genaue Sachkenntnis beim Dolmetscher eine unerläßliche Vorbedingung ist. Von da ab hatte ich es leichter und konnte reibungslos meine Aufgabe erledigen. Denn auch hier galt ja, wie im Haag, nur der französische oder der englische Text der deutschen Erklärungen, so daß ein witziger Pressechef der Reichsregierung den Nagel auf den Kopf traf, wenn er mich mit den Worten kritisierte: „Heute hat aber der Reichsminister wieder eine recht ungenaue deutsche Übersetzung Ihrer französischen Rede verlesen.“
Unter diesen Umständen waren die ersten Jahre im Völkerbund, vor allem die Ratssitzungen, für mich eine rechte Nervenanspannung. Auf meinem kleinen Stühlchen hockend, den Kopf tief über meine improvisierte Schreibunterlage gebeugt, machte ich fieberhaft Notizen, wenn der deutsche Delegierte, wie mir schien, hoch über mir und von mir weg in den Raum hineinsprach, und mußte mich sehr zusammennehmen, mich nicht durch Nebengeräusche oder durch die sich an mir vorbeiwindenden Sekretäre ablenken zu lassen. Wenn ich dann aufstand, sah ich die gespannten Gesichter der Ratsmitglieder zu mir gewandt; Chamberlain schien in meiner Einbildung immer ein besonders kritisches Gesicht zu machen. Vor der Ratstafel saß etwas tiefer die Weltpresse an langen Tischreihen wie das Publikum in einem Theater vor der Bühne und paßte, wie mir schien, ebenso kritisch auf meine Übersetzung auf wie Chamberlain. Weiter hinten das Publikum mit Lorgnons und Operngläsern, die in der ersten Zeit auch nicht gerade beruhigend auf mich wirkten. Hinter mir glaubte ich die deutschen Sachverständigen manchmal leise Kritik an meiner Übersetzung üben zu hören. Gelegentlich rief mir auch dieser oder jener im allerletzten Augenblick noch schnell etwas zu – hätte er es doch vor der Sitzung getan und mich so gründlich über sein Spezialproblem informiert wie den Außenminister!
Bei diesen Ratssitzungen bewunderte ich übrigens immer von neuem Stresemanns phantastisch schnelle Auffassungsgabe. In kritischen Situationen während der Debatte genügten oft ein paar Worte, die ihm ein deutscher Sachverständiger schnell von hinten zuflüsterte – wobei ich den Hals reckte und die Ohren mächtig spitzte –, um ihn zu langen Ausführungen über einen ihm vorher völlig unbekannten Gegenstand, meist in sehr plastischen und treffenden Formulierungen, instand zu setzen.
So waren denn diese Ratstagungen, die in den ersten Jahren in vierteljährlichem Abstand stattfanden, für mich jedesmal ein richtiggehendes Staatsexamen, und ich war heilfroh, wenn ich am Ende der acht Tage, die diese Sitzungen meistens dauerten, wieder im Zuge saß, um mich an sprachlich weniger aufregende Verhandlungsorte zu begeben.
Die Herbsttagung des Völkerbundes im Jahre 1926 hatte neben den Szenen beim Einzug der deutschen Delegation noch einen zweiten Höhepunkt. Das war ein Ereignis, welches sich in völliger Stille hinter den verschlossenen Türen eines kleinen, unscheinbaren Restaurants in einem verschlafenen französischen Dorf jenseits der Schweizer Grenze abspielte: das Gespräch von Thoiry zwischen Briand und Stresemann, das damals eine Weltsensation war und nach London und Locarno eine weitere Etappe auf dem Wege der Annäherung zwischen den beiden Völkern und der friedlichen Regelung der zwischen ihnen bestehenden Probleme bildete. In noch stärkerem Maße als das Gespräch zwischen Herriot und Stresemann auf der Londoner Konferenz von 1924 war diese Zusammenkunft von einem Geheimnis umgeben, das eines Detektivromanes würdig gewesen wäre.
Der deutsche und der französische Außenminister mußten sich auch im Jahre 1926 vor einer unerwünschten Einmischung ihrer Rechtsopposition in ihre Friedensarbeit schützen. Wären ihre Bemühungen vorzeitig, d. h. im ersten Entwicklungsstadium des langsamen Sichherantastens an die Schwierigkeiten, Gegenstand der öffentlichen. Diskussion im Parlament und in der Presse geworden, so wären sie bei der Kompliziertheit der Fragen, um deren Regelung es sich handelte, mit großer Wahrscheinlichkeit zum Mißerfolg verurteilt gewesen. Daher war diese Geheimhaltung unbedingt notwendig.
So begann der Aufbruch der beiden Minister am Morgen des 17. September 1926 unter höchst geheimnisvollen Umständen. Den wachsamen Augen der Journalisten, welche die Hotelhallen des Métropole und des Hotel des Bergues fast ständig bewachten, konnte natürlich die Abfahrt von Stresemann und Briand nicht verborgen bleiben. Sofort schlossen sich ihnen mehrere Wagen mit Pressevertretern an, denn irgendwie war trotz äußerster Geheimhaltung der Presse doch bekanntgeworden, daß eine Zusammenkunft geplant war.
Plötzlich СКАЧАТЬ