Название: Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945
Автор: Paul Schmidt
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: eva digital
isbn: 9783863935030
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Inzwischen aber bereitete ich mich auf den großen Augenblick vor. Nach einem guten Abendessen und einem noch besseren Tropfen fuhr ich mit Marx und Stresemann am Abend dieses für mein Leben so wichtigen Tages zu der um 9 Uhr im englischen Auswärtigen Amt beginnenden Sitzung. Unversehens fand ich mich mit den Großen Europas an einem Tisch. Ich hatte meinen Platz links neben Stresemann, genau dem Premierminister MacDonald gegenüber, der mich manchmal, wenn er sich bequem auf seinem Präsidentenstuhl zurechtrückte und dabei die Beine weit von sich streckte, unter dem Tisch anstieß. Rechts von MacDonald saß der französische Ministerpräsident Herriot, auch heute noch als Präsident der französischen Kammer eine einflußreiche Persönlichkeit, ein großer, vierschrötiger Mann, mit einem fast eckig anmutenden Kopf, aus dem ein Paar gutmütige, forschende Augen gelegentlich einen mißtrauischen Blick auf meinen Nachbarn Stresemann fallen ließen; zur Linken MacDonalds saß der englische Schatzkanzler Philip Snowden. Er war vielleicht die markanteste Gestalt der ganzen Konferenz. Aus seinem hageren Gesicht blitzten ein Paar strenge, ja unerbittliche blaue Augen. Mit seiner Kritik machte er vor niemandem und nichts halt. Er war der Mann der unverblümten Wahrheiten. Von der Politik hielt er anscheinend nichts und von der Diplomatie noch weniger. Mit eiskalter Schärfe, ja vielfach mit einer in dieser Umgebung außergewöhnlichen Grobheit vertrat er seinen Standpunkt. Und meistens stand er dabei auf seiten der Deutschen gegen die Franzosen. Ich sollte Snowdens Art in den nächsten Tagen während der Konferenz und später auch bei anderen Gelegenheiten, wie der zweiten Reparationskonferenz 1929/30 im Haag, noch sehr genau kennenlernen. Rechts neben Herriot sah ich den belgischen Ministerpräsidenten Theunis.
Im Hintergrunde saßen die Berater der Alliierten; sie reichten ihren Ministern oft Zettel mit kurzen Bemerkungen oder Schriftstücke während der Beratungen zu, und man konnte daraus für den Gang der Verhandlungen manches entnehmen, wenn man wußte, wer die Herren in der zweiten Reihe waren und welches Gebiet sie als Sachverständige vertraten. Auch die deutsche Seite hatte ihre Sachberater mitgebracht, die ich hinter mir mit ihren Papieren rascheln und halblaute Bemerkungen austauschen hörte.
Von diesem unerwarteten Zusammentreffen mit den europäischen Staatsmännern war ich nicht so beeindruckt, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Ich war beinahe überrascht, wie selbstverständlich mir nach einigen Minuten meine Umgebung erschien.
Das lag nicht zuletzt an der wenig formellen Atmosphäre, die diese Beratungen kennzeichnete. Ich hatte mir früher immer Verhandlungen zwischen Ministerpräsidenten und Außenministern als eine sehr steife Angelegenheit vorgestellt. Hier aber sprachen die Vertreter der einzelnen Nationen so ruhig und im Gesprächston miteinander, als handele es sich nicht um eine hochpolitische internationale Konferenz, sondern vielmehr um eine Clubversammlung. Wenn man von der Sprache absah, hätte man keinen Unterschied zwischen den deutschen und den anderen Mitgliedern dieses „Clubs“ feststellen können. Das traf jedoch nur auf die äußere Form zu. Inhaltlich merkte man sehr bald, daß das Land, welches Marx und Stresemann vertraten, in dem nur wenige Jahre zurückliegenden Kriege besiegt worden war, und daß die anderen als Fordernde am Tisch saßen.
Ich kam infolge der plötzlichen Ablösung von Michaelis mitten in eine Debatte hinein, die bereits vorher begonnen hatte. Es handelte sich bezeichnenderweise um die Frage der Sanktionen. Das war ein äußerst wichtiger Punkt, denn mit der Begründung, Sanktionen wegen Nichterfüllung von Reparationsverpflichtungen verhängen zu müssen, war ja Poincaré in das Ruhrgebiet einmarschiert. Nun sollte beraten werden, in welcher Weise Sanktionen bei einer Verletzung des Dawes-Planes durchgeführt werden könnten. Ruhig und sachlich hatte Marx die deutschen Einwendungen gegen das erneut auf Grund des Versailler Vertrages in Aussicht genommene Sanktionsrecht vorgebracht. Snowden trat der deutschen Auffassung bei, aber Herriot machte sofort Vorbehalte. Während der Ausführungen von Marx hatte er sich wiederholt an seinen Finanzminister Clémentel und an einen Beamten des Quai d’Orsay, den heutigen französischen Botschafter in London, Massigli, gewandt.
In dem der Konferenz vorliegenden Entwurf über die Sanktionsbestimmungen war vorgesehen, daß im Falle eines „flagrant default“, d. h. einer offensichtlichen Verfehlung Deutschlands, der Sanktionsfall eintreten sollte. Angesichts der Tatsache, daß Poincaré wegen sehr geringfügiger „Verfehlungen“ Deutschlands die Ruhraktion unternommen hatte, war es natürlich der deutschen Seite darum zu tun, von vornherein die Bestimmungen auszuschalten, wonach in Zukunft geringfügige Vorfälle zum Anlaß eines gewichtigen Vorgehens unter dem Vorwand von Sanktionen ergriffen würden.
Daher wurde stundenlang über die Auslegung dieses englischen Ausdruckes hin- und herdebattiert. Snowden ergriff wiederholt das Wort und stellte sich dabei auf den deutschen Standpunkt, indem er nachdrücklich zum Ausdruck brachte, daß im Englischen dieser Ausdruck unter allen Umständen den bestimmten Willen zum Begehen einer Verfehlung bedeute, daß daher eine böswillige Absicht vorliegen müsse. Das war genau der Standpunkt der deutschen Delegation. Wäre Anfang 1923 dem Sanktionsparagraphen eine solche Auslegung gegeben worden, so hätte die Ruhrbesetzung nicht stattfinden können.
An und für sich war diese ganze Diskussion natürlich im Rahmen der größeren Probleme, um die es sich in London handelte, verhältnismäßig belanglos. Mir zeigte sie jedoch, besonders nach dem Zwischenfall Michaelis, welche weittragenden Folgen einzelne Formulierungen im internationalen Verkehr oft haben können, und ich habe mich in der Folge bei meinen Übersetzungen immer an diese ersten Beispiele aus meiner Laufbahn erinnert.
Den ganzen Abend verbrachte die Konferenz mit der Diskussion dieser und ähnlicher Punkte. Eine Einigung wurde in keiner Hinsicht erzielt, und man vertagte sich auf den nächsten Vormittag.
Erleichtert erhob ich mich mit der deutschen Delegation. Meine Aufgabe bei der Übersetzung der Ausführungen von Marx und Stresemann war insofern erleichtert worden, als man mir nur die französische Fassung anvertraut hatte. Ins Englische übersetzte der spätere Generalkonsul Kiep, damals noch Legationssekretär, der nach dem 20.Juli 1944 von der Hitlerjustiz ermordet wurde.
Zum ersten Male sprach an jenem Abend auch Stresemann persönlich mit mir. Er war so freundlich, mir einige anerkennende Worte über meine Arbeit zu sagen, und bat mich, ihn von nun ab bei allen Verhandlungen zu unterstützen. Auch der Reichskanzler deutete an, er sei nach dem Ruhrzwischenfall mit Herriot vom Vormittag sehr erfreut gewesen, daß sich dank meiner ruhigeren Sprache trotz der umstrittenen Punkte und der delikaten Fragen, die auf der Sitzung behandelt worden seien, keine Schwierigkeiten mit Herriot mehr ergeben hätten.
Von nun an fuhr ich regelmäßig mit Marx und Stresemann vor- und nachmittags in die Konferenzsitzungen, die manchmal im britischen Auswärtigen Amt, manchmal auch in den Räumen des englischen Premierministers im Unterhaus stattfanden.
Heute erscheinen mir die damals in den offiziellen Sitzungen behandelten Fragen verhältnismäßig unwichtig gegenüber der politischen Entwicklung, die sich in Privatgesprächen anbahnte. Auch hier spielten sich die wichtigsten Vorgänge außerhalb der Verhandlungsräume ab.
Das Ereignis, das alles andere, was auf der Konferenz sonst noch geschah, an Wichtigkeit übertraf und dessen Rückwirkungen weit über die Lebensdauer des Dawes-Abkommens hinausreichten, war die erste persönliche Begegnung, die hier in London nach dem Weltkriege von 1914 zwischen dem deutschen und dem französischen Außenminister stattfand. Es war das erstemal seit über zehn Jahren, daß sich die außenpolitischen Vertreter dieser beiden Nachbarvölker unter vier Augen in einer fast zweistündigen persönlichen Aussprache gegenübersaßen.
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