Название: Philosophisches Taschenwörterbuch
Автор: Voltaire
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783159617657
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AMOUR PROPRE – Eigenliebe
Ein Bettler aus der Gegend um Madrid bat mit edler Geste um Almosen. Ein Passant sagte zu ihm: »Schämen Sie sich denn nicht, diesem unwürdigen Beruf nachzugehen, wo Sie doch arbeiten können?« – »Mein Herr, antwortete der Bettler, ich bitte Sie um Geld, und nicht um Ratschläge«; dann drehte er ihm den Rücken zu und bewahrte so seine kastilische Würde. Das war schon ein stolzer Herr, dieser Bettler, ein Weniges genügte, um seine Eitelkeit zu verletzen. Aus Eigenliebe bat er um Almosen und duldete nicht, dass eine andere Eigenliebe ihn rügte.
Ein Missionar reiste durch Indien und traf auf einen Fakir, kettenbehängt, nackt wie ein Affe, der auf seinem Bauch lag und sich für die Sünden seiner indischen Mitbürger auspeitschen ließ, die ihm dafür einige Heller in Landeswährung gaben. »Welche Selbstverleugnung!«, sprach einer der Zuschauer – »Selbstverleugnung?«, erwiderte der Fakir; »Sie sollen wissen, dass ich mir in dieser Welt nur den Hintern versohlen lasse, um es Ihnen in einer anderen zurückzugeben, wenn Sie das Pferd sein werden und ich der Reiter.«
Diejenigen, die gesagt haben, dass die Eigenliebe die Grundlage all unserer Empfindungen und Handlungen sei, haben folglich absolut recht in Indien, in Spanien und auf der ganzen bewohnbaren Erde; und weil man nicht schreibt, um den Menschen zu beweisen, dass sie ein Gesicht haben, braucht man ihnen auch nicht zu beweisen, dass sie Eigenliebe besitzen. Diese Eigenliebe ist das Werkzeug unserer Selbsterhaltung und gleicht dem Werkzeug unserer Arterhaltung; es ist uns unentbehrlich, es ist uns teuer, es bereitet uns Vergnügen, und man muss es verbergen.
ANGE – Engel
Engel heißt auf Griechisch »der Abgesandte«; man ist auch nicht viel klüger, wenn man weiß, dass die Perser Peris hatten, die Hebräer Malachim, die Griechen ihre Daimonoi.
Aber was uns vielleicht klüger macht, ist, dass es schon immer einer der ersten Gedanken der Menschen gewesen ist, zwischen der Gottheit und uns vermittelnde Wesen einzusetzen: Das sind jene Dämonen, jene Genien, welche die Antike sich ausdachte. Der Mensch schuf die Götter immer nach seinem Bilde. Man sah, dass die Fürsten ihre Befehle durch Boten übermitteln ließen, also schickte auch die Gottheit ihre Kuriere, Merkur, Iris waren Kuriere, Sendboten.
Die Hebräer, dieses einzige von der Gottheit selbst geführte Volk, gaben den Engeln, die Gott ihnen schließlich zu schicken geruhte, zunächst keine Namen; sie entlehnten die Namen, die die Chaldäer ihnen gaben, als das jüdische Volk in Babylonien gefangengehalten wurde. Michael und Gabriel werden zum ersten Mal von Daniel, einem Sklaven dieses Volkes, genannt. Der Jude Tobias, der in Ninive wohnte, wusste vom Engel Raphael, der mit seinem Sohn auf die Reise ging, um ihm das Geld eintreiben zu helfen, das ihm der Jude Gabael schuldete.*
In den jüdischen Gesetzen, das heißt, im Levitikus und im Deuteronomium, findet sich nicht die geringste Bemerkung über die Existenz von Engeln, geschweige denn über ihre Verehrung; daher glaubten die Sadduzäer nicht an Engel.*
Aber in den Geschichten der Juden ist viel von ihnen die Rede. Diese Engel besaßen einen Körper, sie hatten Flügel auf dem Rücken, so, wie die Heiden erfanden, dass Merkur welche an den Fersen hatte; manchmal verbargen sie ihre Flügel unter ihren Gewändern. Wie sollten sie auch keine Körper haben, wo sie doch aßen und tranken und die Einwohner Sodoms die Sünde der Päderastie mit den Engeln begehen wollten, die zu Lot kamen.
Nach Maimonides kannte die alte jüdische Tradition zehn Stufen, zehn Ordnungen von Engeln. 1. Die Chajot Hakodesch, die Reinen, Heiligen. 2. Die Ophanim, die Schnellen. 3. Die Oralim, die Starken. 4. Die Chasmalim, die Flammenden. 5. Die Seraphim, die Brennenden. 6. Die Malakim, Engel, Boten, Abgesandte. 7. Die Elohim, die Götter oder Richter. 8. Die Bene Elohim, Kinder der Götter. 9. Die Cherubim, die Spiegelbilder. 10. Die Ychim, die Beseelten.*
Die Geschichte vom Sturz der Engel findet sich nicht in den Büchern Mose; das erste Zeugnis, von dem man berichtet, ist das des Propheten Jesaja, der den König von Babylon anherrscht: »Was ist aus dem Tributeintreiber geworden? Die Tannen und die Zedern erfreuen sich seines Sturzes; wie bist du vom Himmel gefallen, o Helel, Stern des Morgens?« Man übersetzte dieses Helel mit dem lateinischem Wort Luzifer, und danach hat man den Namen Luzifer in allegorischem Sinn dem Fürsten der Engel gegeben, die im Himmel Krieg führten; und schließlich ist dieser Name, der Träger des Lichts und Morgenröte bedeutet, zum Namen des Teufels geworden.
Die christliche Religion ist auf dem Sturz der Engel aufgebaut. Diejenigen, die sich auflehnten, wurden aus den Sphären, die sie bewohnten, hinabgestürzt in die Hölle im Inneren der Erde und wurden zu Teufeln. Ein Teufel in Schlangengestalt verführte Eva und brachte dem Menschengeschlecht die Verdammnis. Jesus kam zur Erlösung des Menschengeschlechts und um den Teufel zu bezwingen, der uns noch immer in Versuchung führt. Jedoch ist die dem zugrunde liegende Überlieferung nur in dem apokryphen Buch Henoch zu finden, zudem unterscheidet sie sich stark von der traditionellen Überlieferung.
Der heilige Augustinus hat in seinem 109. Brief keinerlei Schwierigkeiten, den guten und den bösen Engeln von allem losgelöste und geschmeidige Körper zuzuordnen.* Papst Gregor II. hat die zehn von den Juden anerkannten Engelchöre auf neun Chöre, neun Stufen oder Ordnungen, verringert; dies sind die Seraphim, die Cherubim, die Throne, die Herrschaften, die Tugenden, die Gewalten, die Fürsten, die Erzengel und schließlich die Engel, die den acht weiteren Ordnungen ihren Namen geben.*
Die Juden hatten im Tempel zwei Cherubim mit jeweils zwei Köpfen, einen Stier- und einen Adlerkopf, dazu sechs Flügel. Heute stellen wir sie als fliegenden Kopf mit zwei kleinen Flügeln unterhalb der Ohren dar. Die Engel und die Erzengel stellen wir in Gestalt junger Männer dar, mit zwei Flügeln auf dem Rücken. Hinsichtlich der »Throne« und der »Mächte« ist man noch nicht auf den Gedanken gekommen, sie darzustellen.
Der heilige Thomas sagt in seiner Quaestio 108, Artikel 2, die Throne seien ebenso nah bei Gott wie die Cherubim und die Seraphim; sind sie es doch, auf denen Gott sitzt. Scotus hat tausend Millionen Engel gezählt. Nachdem die alte Mythologie von den guten und den bösen Genien vom Orient auf Griechenland und Rom übergegangen war, haben wir diese Ansicht bestätigt, indem wir jedem Menschen einen guten und einen bösen Engel zuordneten, von denen der eine ihm beisteht, der andere ihm von der Geburt bis zum Tode schadet; aber man weiß noch nicht, ob diese guten und bösen Engel andauernd von einem Einsatzort zum anderen wechseln, oder ob sie von anderen Engeln abgelöst werden. Man konsultiere zu dieser Frage die Summa des heiligen Thomas.*
Man weiß nicht genau, wo sich die Engel aufhalten, ob in der Luft, im leeren Raum oder auf den Planeten. Gott wollte nicht, dass wir etwas darüber wissen.
ANTHROPOPHAGES – Menschenfresser
Wir haben von der Liebe gesprochen. Es ist schwierig, einen Übergang zu finden von Leuten, die einander küssen, zu solchen, die einander auffressen. Aber es ist nur allzu wahr, dass es Menschenfresser gab; wir haben welche in Amerika vorgefunden, und vielleicht gibt es sie immer noch; und die Kyklopen* waren in der Antike nicht die Einzigen, die sich manchmal von Menschenfleisch ernährten. Juvenal berichtet, dass bei den alten Ägyptern, diesem doch so weisen und für seine Gesetzgebung bekannten Volk, diesem so frommen Volk, das Krokodile und Zwiebeln verehrte, die Tintiriten* einen ihrer Feinde aufaßen, der ihnen in die Hände gefallen war; sein Bericht beruht nicht auf bloßem Hörensagen, dieses Verbrechen geschah nahezu vor seinen Augen, denn er war damals СКАЧАТЬ