Название: Kursbuch 203
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
Серия: Kursbuch
isbn: 9783961961726
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Diese Art von Lösung änderte sich spätestens dort, wo Arbeitsteilung stieg und Komplexität schon dadurch wuchs, dass sich Herrschaftsräume ausweiteten, Hierarchien zunahmen und symbolisch vermittelt werden mussten sowie Gesellschaften schlicht größer wurden. Solchen Gesellschaften gelang es, sich selbst intern zu integrieren, indem sie die Menschen selbst gar nicht als Menschen, sondern vollkommen eindeutig mit ihrer sozialen Position verschmelzen ließen. In historisch grober Ungenauigkeit gesprochen, ist das gewissermaßen der Ausgangspunkt jener ständischen Ordnungen, die Menschen eineindeutige Orte zugewiesen haben und nicht einmal auf die Idee kommen konnten, das »Ungleichheit« zu nennen, weil der Horizont von Gleichheit gar nicht erst auftauchen konnte. Ständische Ordnungen sind Ordnungen, die das erwähnte Bezugsproblem dadurch lösen, dass jede und jeder eindeutig weiß, wo er oder sie hingehört – weitgehend alternativlos. An den Körpern ihrer Existenz hing zugleich der soziale Ort – und die Lebensweise war bestimmt durch die Produktions- und Herrschaftsbedingungen, in denen sich die Individuen bewegten.
Der Nachteil dieser Lösung bestand darin, dass solche Modelle der eindeutigen Zugehörigkeit den Ort der konkreten Person in einem einseitigen Kontrollverhältnis bearbeiten konnten. Der Vorteil dieser Lösung bestand gleichzeitig darin, dass die Kontrollverhältnisse eindeutig waren. Nimmt man de Maistres Kritik an der Revolution ernst, dann ist es eine Kritik daran, dass mit der Aufgabe dieses Ordnungsmodells exakt jenes Kontrollverhältnis verschwindet. De Maistre war kein Romantiker – er glaubte nicht an die Göttlichkeit einer konkreten Ordnung. Er war einer der ersten Soziologen – und als solcher erkannte er die Funktion eines eindeutigen Kontrollverhältnisses: Wenn eine Gesellschaft nicht mehr die Tradition ihrer hierarchischen Gliederung anerkennt, wird sie ordnungslos, weil die Kontrollverhältnisse aus den Fugen geraten. Wie die romantische Variante dieser Diagnose aussieht, habe ich mit der Jenaer Romantik angedeutet: alle Gegensätze (Natur/Geist, Herrscher/Untertan, Mann/Frau usw.) zu überwinden, ohne aber klare Hierarchien infrage zu stellen.
Dass solche Denkungsarten an der Schwelle zur Moderne entstanden, ist eine Reaktion auf ihr Scheitern. Die interne Differenziertheit und Komplexität der Gesellschaft schließt solche eindeutigen Kontrollverhältnisse geradezu aus – nur um neue Kontrollverhältnisse zu etablieren, die aber nicht mehr von jener Latenz und jener primordialen Kraft leben konnten wie zuvor. Man kann es an den gesellschaftlichen Veränderungsstichworten des 19. Jahrhunderts festmachen: der Nationalstaat als komplexe Verwaltungseinheit mit starken bürokratischen Planungshorizonten; die Entstehung des Betriebskapitalismus als völlig neue Form der Organisation von Arbeitsteilung; die unter anderem daraus folgende Urbanisierung der Zentren; die Entstehung von Familienformen mit stabilen Geschlechterrollen; die Etablierung von Bildungskarrieren; die Gestaltung von sozialer Ungleichheit als staatlicher Aufgabe und die Entstehung der »sozialen Frage«; das rechtliche Gleichheitsversprechen bei gleichzeitiger ungleicher Verteilung von Lebensmöglichkeiten sowie die Verwissenschaftlichung des Wissens und so weiter.
Wahrscheinlich waren die Lebensverhältnisse in früheren Mangelgesellschaften für den Großteil der Bevölkerung erheblich schwieriger, aber das Verhältnis von individuellem Überleben und gesellschaftlicher Dynamik war sicher einfacher, zumindest einfacher zu verstehen und einfacher in dem Sinne, dass es wenig Alternativen der je individuellen Lebensgestaltung gab. Eine moderne, hoch arbeitsteilige, funktional differenzierte Gesellschaft musste diese Form der Lebensgestaltung je neu erfinden – und deshalb wurde auch die Schaffung konkreter Orte für das Leben der Menschen zum entscheidenden Gestaltungsthema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Um eine unvollständige Liste solcher Gestaltungsfragen zu formulieren:
•Die Verbetrieblichung des Kapitalismus und die Organisation von Arbeit etwa mussten das Problem lösen, dass der kleine Beitrag des Einzelnen ökonomisch so viel Mittel abwerfen konnte, dass Personen in der Lage sind, davon zu leben.
•Diese Versorgungsleistung musste sich einerseits auf einem Markt selbst regulieren, andererseits stark genug sein, um Lebensverhältnisse zu etablieren, die Massenloyalität ermöglichten.
•Massenloyalität, auch vor dem Resonanzraum einer entstehenden Öffentlichkeit, ist in einer Demokratie nötig, die langsam erst allen Männern, viel später auch Frauen das Wahlrecht übertrug und das Risiko einging, Herrschaft vom Willen des Volkes abhängig zu machen.
•Das Bildungssystem musste zweierlei leisten – möglichst gute Bildung für die unterschiedlichen Klassen und Schichten, aber eben nicht zu viel davon, um die Schichtung der Gesellschaft durch ungleiche Zuweisung von Positionen stabilisieren zu können.
•Die Erfindung von Kindheit und Jugend als Bildungs- und Vorbereitungszeit versorgt das gesellschaftliche Personal mit ausreichend Komplexität für die Lebensführung.
•Die Versorgung der Gesellschaft mit Massengütern für Massen, die diese Güter nicht selbst herstellen.
•Eine Sozial- und Wirtschaftsplanung.
•Die Organisation von Daseinsvorsorge und Finanzierung von Ausfallzeiten, etwa durch Unterstützungs- und Versicherungssysteme.
•Was oft vergessen wird: Die Organisation der Daseinsvorsorge durch Sozialpolitik, Umverteilung und Formen der Anspruchsberechtigung konzentriert sich auf die Erreichbarkeit eines nationalen Rahmens, der erst Gestaltung und Planung, Kontrolle und Limitierung möglich macht.
•Das Erfolgsmodell der »Nation« als dem entscheidenden Schema der räumlichen Begrenzung von Einflusssphären nutzt zwar kulturelle Chiffren von Überlieferungen, Codierungen und Traditionen, hat aber vor allem den Sinn, Gestaltungsräume voneinander abzugrenzen und »Gesellschaft« als Raum der Limitation von Zugehörigkeit wie auch der Etablierung von Konflikten als Öffentlichkeit zu inszenieren.
•Die Erfindung des Inländers und des Fremden als exklusive Kategorien reguliert die Zugehörigkeit zum Volkskörper.
•Der Staatsbürgerstatus oder Derivate davon, die Aufenthaltsrecht und damit Lebensplanung ermöglichen, sind gewissermaßen das direkte Korrelat der Notwendigkeit, dass das Leben nicht einfach stattfindet, sondern sowohl aktiv geführt als auch passiv ermöglicht und staatlich kontrolliert werden muss.
Wie bereits erwähnt: Diese Liste ist nicht vollständig und zugegebenermaßen allzu technokratisch beschrieben. Aber sie macht eines deutlich: Sie reagiert auf eine Gesellschaft, die die Orte definierte, an denen sich Personen aufgehalten haben und die die Kontinuität ihres Lebensverlaufs selbst herstellen mussten – man nannte das »Lebensführung« –, ohne dass dies in der Gesellschaftsstruktur selbst verankert war. Das Entscheidende ist, dass gesellschaftliche Modernität bedeutet, dass die unterschiedlichen Elemente, die so etwas wie Orte der Lebensführung erzeugen, vergleichsweise unkoordiniert waren und eigens hergestellt werden mussten. Die Komplexität der modernen Gesellschaft war und ist darauf angewiesen, nicht zu viel festzulegen. Die Leistungsfähigkeit gerade der industriegesellschaftlichen westlichen Moderne bestand darin, dass Differenzierungsprozesse und die Unterbrechung von strikten Kontrollverhältnissen erst jene Kreativität und Flexibilität ermöglicht haben, die die Basis für die Selbstanpassung der Gesellschaft an ihre interne Dynamik ermöglicht hat.
Kontrollverhältnisse
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