Название: Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori
Автор: Hans Reichenbach
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066111588
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Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung der speziellen Relativitätstheorie die empirische Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials erhebt sich der tiefe Gedanke Einsteins: daß eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten unmöglich ist. Auch die alte Definition einer absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung: sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung gibt.
Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist Einstein eingewandt worden, daß seine Überlegungen nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln niemals zu einer genauen „absoluten“ Zeit kommen kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend approximativen Messung müßte festgehalten werden. Dieser Einwand ist falsch. Die „absolute“ Zeit fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu, so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen, wie etwa Kant die Unzerstörbarkeit der Substanz apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten. Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten eine obere Grenze nicht geben. Darüber läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist eine rein physikalische Frage. Wenn etwa — und gerade das haben alle experimentellen Untersuchungen zur Relativitätstheorie gelehrt — schon für die Erzeugung einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen, in denen z. B. die kinetische Energie eines Massenpunktes mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist, die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren, oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere Grenze der Temperatur zu unterschreiten[A], kann auch die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das andere, aber es handelt sich hier gerade um das physikalisch Erreichbare. Wenn ein physikalisches Gesetz existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die „absolute“ Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von einer „idealen Zeit“ auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten[6].
[A] Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird, und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung. Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.
Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme), und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes, mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten ist aber eine empirische Angelegenheit der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken vollzieht dabei Einsteins Entdeckung, daß die Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden kann.
Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung. Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten. Allerdings wird sich der experimentelle Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze ist, z. B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen; es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch der Michelsonsche Versuch ist ein Beweis nur, wenn man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist. Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste Extrapolation verwendet, das Prinzip der normalen Induktion nennen. Allerdings verbirgt sich hinter dem Begriff „wahrscheinlichste Extrapolation“ noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht. Denken wir uns z. B. die Werte der kinetischen Energie des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0–99% der Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die sich bei 100% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt. Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve zwischen 99% und 100% noch einen Knick macht, so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten, den Michelsonschen Versuch eingerechnet, nicht auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion, um seinen aprioren Charakter im Sinne des Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung dieses Prinzips näher eingehen.
Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie, daß die Prinzipien:
Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
Prinzip der irreversiblen Kausalität
Prinzip der Nahewirkung
Prinzip des approximierbaren СКАЧАТЬ