Название: Otternbiss
Автор: Regine Kölpin
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839264928
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»Bleib stehen!«, ruft Maria.
Achim hört aber nicht hin. Er stolpert durch den Sand, rennt in Richtung Dünenkamm. Dort verharrt er eine Weile, schaut sich kurz um und verschwindet zum Strand.
Für Oskar also. Maria seufzt. Oskar ist Achims kleiner Bruder. Todkrank, hat Leukämie. Deshalb ist Achim in der Kinderfreizeit. Seine Eltern müssen sich um den Jüngeren kümmern. Für den Älteren bleibt nicht viel Raum in einer solchen Zeit. Maria hat die Mutter beim Abschied erlebt. Achim ist ihr zu viel. Ihr Herz war nicht bei ihm. Maria sieht das. Der Vater ist auch komisch. Er hat den Kleinen fest im Arm gehalten und ihm noch etwas ins Ohr geflüstert. Danach hat Achim zwar gestrahlt, aber trotzdem war auch zwischen den beiden keine Nähe zu spüren.
Es steht ihr nicht zu, über irgendjemanden zu richten. Das ist arrogant.
Maria folgt Achim. Der Sand, der seitlich in ihre Sandalen rieselt, ist unangenehm. Sie schüttelt ihn aus, schleppt sich die Düne hinauf. Neben ihr raschelt es. Sie sieht das Ende einer Kreuzotter gerade im Dünengras verschwinden. Maria ist froh, dass der Überweg größtenteils mit Holzbohlen ausgelegt ist. Darauf läuft es sich etwas besser. Doch die Wärme steht hier schon, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Sie ist empfindlich damit. Als sie den Strand endlich vom Dünenkamm aus überblicken kann, rennt Achim bereits in Richtung Wattsaum.
Die Nordsee dümpelt in der Ferne wie eine leicht bewegte Folie auf und ab und erinnert Maria an das Meer der Augsburger Puppenkiste. Es ist auflaufend Wasser. Maria kann fast zusehen, wie sich die ersten Priele in Ufernähe füllen und das Meer nach und nach das Watt bedeckt.
Der Horizont ist aber zur Blauen Balje hin nicht erkennbar. Das Meer wird nicht wie sonst mit einem schmalen Strich vom Himmel getrennt. Es vermischt sich mit ihm zu einer graudunklen Masse, die auf die Küste zuwabert.
Marias Herz schlägt ein paar Takte schneller. Hier stimmt etwas nicht. Achim wird immer winziger, je deutlicher er sich entfernt. Maria formt die Hände zu einem Trichter. Sie atmet tief ein, versucht Kraft in die Stimme zu legen: »Achim! Komm zurück!« Die Töne verhallen in der Weite, die durch diese merkwürdige Wand weniger zu werden scheint.
Maria hastet die Düne hinunter, stürzt, rollt den feinsandigen Abhang hinab, krallt ihre Hände in den Sand, um den Sturz abzufangen. Sie schafft es, auf die Füße zu kommen, greift nach ihren Latschen und rennt. Und rennt und rennt. Sie bemerkt nicht, wie ihre Zehe zu bluten beginnt, weil sie auf eine klaffende Muschel getreten ist. Sie merkt nicht das Stechen im Knie, das sie sich bei ihrem Sturz verletzt hat.
»Achim!«, ruft sie wieder. Doch der ist längst nur noch ein kleiner blauer Tupfen, den man wie zufällig dorthin platziert hat. Er hat die Welt um sich herum vergessen.
Maria sammelt ihre Kräfte, will dem Jungen ein Stück näher kommen, ihn einholen. Sie spürt, wie wichtig es ist. Dass ihr kaum noch Zeit bleibt.
Die dunkle Wand nähert sich stetig der Küste, scheint mit ihren ersten Ausläufern bereits am Wattsaum zu lecken. Es wirkt so, als habe sie sich auf die herannahende Wasseroberfläche gesetzt und reite auf ihr dem Strand entgegen.
Maria hält abrupt an. Ein Begreifen kriecht vom Kopf her in ihren Bauch und verursacht dort ein Brennen. Diese seltsame Wand ist der Nebel. Dieser tiefe, graue, gefährlich undurchdringliche Nebel, der jetzt feine Schwaden über das noch trockene Watt schickt und mit den ersten Ausläufern am Strand leckt.
Bald werden diese Fäden sich mit der See und dem Sand verweben und Wasser und Meer zu einer Einheit verbinden.
»Achim!« Marias Stimme überschlägt sich, gerät in ungeahnte Höhen. »Wir müssen weg!«
Der Junge blickt nicht einmal auf. Wahrscheinlich hat er sie nicht gehört. Maria erkennt seine gebückte Haltung. Er scheint unglaublich in etwas vertieft zu sein.
»Achim!« Ihr Ruf wird vom Meer und dieser Suppe verzerrt, dringt nicht durch.
Bevor der Kleine vom Nebel verschluckt wird, glaubt Maria noch eine Gestalt neben ihm zu erkennen, aber sie weiß selbst, dass es nur ein Trugschluss, eine verfehlte Hoffnung ist.
Die dunkle Wand hat auch sie fast eingeholt.
»Wenn der Seenebel kommt, müsst ihr, so rasch es geht, an die Dünenkette laufen. Bei Flut ist er so dicht, ihr wisst nicht mehr, in welche Richtung ihr gehen sollt. Und ihr seid verloren!« Warum fällt ihr erst jetzt ein, was der Betreuer ihnen wieder und wieder eingetrichtert hatte? Vorhin wäre es früh genug gewesen, Achim zurückzuholen. Wenn sie nur die Zeichen rechtzeitig erkannt hätte. Hätte, hätte, hätte …
Erst im vergangenen Jahr ist ein Mädchen bei Seenebel im Osten ertrunken, weil es vor Angst ins Wasser gefallen, dort in einer Senke abgetaucht und in Panik geraten war.
Aber sie kann jetzt nicht zurück zu den Dünen. Sie muss Achim finden. Irgendwo in dieser Brühe irrt er herum, wartet auf ihre Hilfe. Er vertraut ihr. Sie ist die Einzige, die in der Lage ist, etwas zu tun. Niemand sonst ist hier. Es ist zu früh am Tag. Er ist ihr anvertraut. Sie wird ihn nicht allein lassen. Mittlerweile umtanzen die Nebenschwaden ihre Füße. Es ist fast unmöglich, den Boden zu erkennen. Dann wird auch sie verschluckt. Es ist plötzlich viel kälter und unglaublich feucht. Suchend schlägt Maria mit den Armen um sich. Sie verharrt auf der Stelle, versucht sich zu orientieren. Ganz ruhig bleiben. Es ist so still um sie herum, als gäbe es auf der Welt nur sie allein. Sie vernimmt weder Möwenschreie noch das Plätschern der Wellen. Gespenstische Ruhe, tödliche Ruhe.
Maria lässt ihre Latschen aus der Hand fallen. Sie braucht sie hier nicht. Sie tastet sich vorwärts. Schritt für Schritt tappt sie durch den Sand, in die Richtung, wo sie den Jungen vermutet. »Achim!« Ihre Stimme klingt so dumpf, so verloren. »Wo steckst du, verdammt?« Wieder heften sich die Augen in das graue Dickicht, suchen Millimeter für Millimeter alles ab.
Nach einer Weile entdeckt Maria, dass sie im Kreis gelaufen ist. Ihre Latschen liegen achtlos dahin geworfen im Sand.
Wangerooge, zehn Jahre später
Seelenpfad 1
Ränder
Manchmal muss einer fortgehen
um allein zu sein …
Elke Langenstein-Jäger
Angelika Mans stand vor der Polizeistation in der Charlottenstraße und klingelte schon seit geraumer Zeit Sturm. Sie hatte ihr Handy vergessen, konnte die dort angeschlagene Nummer nicht wählen. Wangerooge schlief um diese Zeit noch und normalerweise würde sie das auch tun. Wenn sie nicht eine Eingebung früh aus dem Bett gescheucht hätte und in das Zimmer von Lukas sehen lassen. Das Bett war ordentlich gemacht, das Kopfkissen in der Mitte geknufft, wie sie das gern tat, und darauf thronte der dunkelbraune Teddy mit dem Herzen an der Hand. Aber von ihrem Sohn keine Spur. Er hatte das Haus mitten in der Nacht oder zumindest früh am Morgen verlassen.
Lukas war erst acht Jahre, viel zu klein für eine solche Aktion. Es passte auch nicht zu ihm. Aber er war in der Zeit seit der Trennung von Dieter seltsam geworden. Deshalb hatte sie diesen Kurztrip allein mit ihrem Sohn gebucht, wollte sich ein schönes verlängertes Wochenende auf der Insel machen. Lukas hatte sie in der Schule krankgemeldet, Urlaub während der Ferien war in der Firma einfach nicht drin. Zu viele andere Mitarbeiter drängten mit ihren Urlaubswünschen in die schulfreie Zeit.
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