Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Название: Politische Philosophie des Gemeinsinns

Автор: Oskar Negt

Издательство: Автор

Жанр: Афоризмы и цитаты

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isbn: 9783958298217

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СКАЧАТЬ und Gesellschaft bis aufs Äußerste durchzuführen. Das ist gewissermaßen revolutionäre Gewalt: das Begreifen des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs als eines Ganzen, wobei das Moment von Moral und politischer Moral in allen diesen Ebenen mitenthalten sein muss, weil keine Vermittlung ohne Unmittelbarkeit stattfindet. Das bedeutet auch, wenn ich das auf die Protestbewegung beziehe, dass diese unter anderem dadurch große Bedeutung gehabt hat, weil sie die von Liberalen und anderen angebotenen und angepriesenen Vermittlungen nicht beachtet hat, dass folglich der Schritt, den man politisch tut, nicht immer die Kalkulation aller Vermittlung enthalten muss, sonst würde keine politische Aktion zustande kommen. Dieses Moment von Unmittelbarkeit bezeichnet Dialektik genauso wie das Moment der Vermittlung. Wo eins vom anderen abgetrennt ist, wo Gewalt sich auf Unmittelbarkeit reduziert, wird sie zum Bestandteil des bestehenden Systems, genauso wie bei jenen, die glauben, man müsse sämtliche analytischen und praktischen Vermittlungsschritte erst vollzogen haben, um einen einzigen politischen Schritt zu tun. Ich sage: Beides sind Abstraktionen. Es gilt nicht so sehr, für die eine oder andere Seite zu plädieren.

      Diesen dialektischen Gewaltbegriff finden wir bei Lenin, Luxemburg, Marx und bei Mao Tse-tung im Besonderen. Ich möchte das an einem Beispiel aus der chinesischen Geschichte des Langen Marsches erläutern. So war es in der ersten Phase keineswegs so, dass die Truppen der Roten Armee, die ein Dorf okkupierten, zu requirieren, wenn nicht zu plündern verzichtet hätten. Das heißt die Rote Armee trat hier als revolutionäre Gewalt auf, auch wenn das bedeutet, revolutionäre Gewalt auf das zu beschränken, was personell identifizierbar ist. Mao Tse-tung hingegen hat in den verschiedenen Analysen der Klassenverhältnisse Chinas darauf gedrungen, dass alles bezahlt werde und dass es dabei völlig gleichgültig sei, ob es einen konterrevolutionären Bauern trifft oder nicht, sondern das zunächst einmal Vertrauensverhältnisse hergestellt werden müssen, die durch die Unmittelbarkeit und die Demonstration revolutionärer Gewalt als Geschichtszeichen nicht herzustellen sind.

      Nicht durch die Fanale ist die Revolution zustande gekommen, sondern durch die auf konkrete, entfremdete Bedürfnisse der Bauern eingehende revolutionäre Gewalt, durch den Prozess der Selbstveränderung im kollektiven Sinne, während die Geschichtszeichen Metaphysik sind und eine Veränderung nur im individuellen Sinn beanspruchen und zulassen. Der Individualismus, der in dieser Fanal-Metapyhsik, in dieser Zeichen-Metaphysik steckt, ist genau das, was die bürgerliche Gesellschaft in ihrem abstrakten Gewaltbegriff auszeichnet, während die revolutionäre Gewalt in dem Sinne tatsächlich darauf angewiesen ist, Bedingungen herzustellen, unter denen die Individuen mehr oder weniger zwanglos in den Prozess der Revolutionierung der Verhältnisse einbezogen werden.

      Eine Form der Gewalt, das ist mein Hauptargument, die sich nicht in dieser Weise gesamtgesellschaftlich vermittelt und wie sie in Deutschland zudem verbunden mit Innerlichkeit und Moralität auftritt, ist ein Stück bürgerlicher Gewalt und bürgerlicher Geschichte. Diese Gewalt ist von den Betreffenden nicht gewollt, sondern ein Stück deutscher Geschichte, die eigentlich nur Restauration kennt, wie Marx einmal gesagt hat, und nicht die Revolution der westlichen Länder.104 Das hat im kollektiven Unbewussten auch das Moment der Moralisierung von Politik verankert, was unverändert bis in die Linke hineinwirkt.

      Aber nehmen wir erneut diese Konnotation, diese Assoziation mit dem Anarchismus auf. Im letzten Satz der »Anthropologie« definiert Kant Anarchie, wie wir gesehen haben, als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das zunächst eine sehr bemerkenswerte Definition ist, die gängigen Vorstellungen gerade einer Verbindung von Anarchie und Gewalt widerspricht. Aber hier gilt es doch geschichtlich zu differenzieren, um den Anarchismusbegriff nicht auf diese verbreiteten Vorstellungen zu beschränken.

      Man kann sagen, in fast allen bürgerlichen und nachbürgerlichen Klassen ist der Vorwurf des Anarchismus zunächst immer einer, der die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bestätigt, also ein Indiz dafür, dass die Inhalte, die im Anarchismus mitgedacht wurden, nicht realisiert sind. Er belegt ein Bedürfnis der bestehenden Systeme, möglichst viele Gruppierungen als anarchistisch zu bezichtigen. Der Vorwurf wurde beim Aufstand von Kronstadt (1921) erhoben, gegenüber der Münchener Räterepublik, gegenüber den spanischen Anarcho-Syndikalisten – und nicht zuletzt von Marx, der mit den Anarchisten geradezu eine Privatfehde in äußerster Verbitterung und Verbissenheit geführt hat, die unter seiner Würde war.

      Warum hat Marx diesen Kampf geführt? Zunächst hat er festgehalten, dass die Ziele des Anarchismus, die Aufhebung des staatlichen Zwangs, identisch sind mit jenen des Marxismus und der Kritik der politischen Ökonomie. Marx hat nie bestritten, dass die Anarchisten Ziele verfolgen, die mit den seinigen im Großen und Ganzen übereinstimmen. Er hat ihnen aber jenen Vorwurf gemacht, der seitdem in der Luft schwebt, dass sie diese Ziele mit völlig unvermittelten, inadäquaten Mitteln erreichen wollen und, was noch schwererwiegender ist, mit Zeitvorstellungen, die den langwierigen Prozessen nicht gerecht werden.

      Als Anarchisten werden hier also diejenigen bezeichnet, die übereilt revolutionäre Prozesse in Gang bringen wollen, um ein sehr kompliziertes und komplexes Herrschaftssystem zu beseitigen. Aus diesen Gründen erblickte Marx in ›den Anarchisten‹ buchstäblich die größte Gefährdung für den Marxismus. Dabei sind Anarchisten in dieser Weise gar nicht auf einen Nenner zu bringen und schon gar nicht auf einen Punkt zu reduzieren, etwa mit der Feststellung, Bakunin habe in Genf bei Uhrenmachern, also bei Kleinbürgern gearbeitet und auch Proudhon habe sich wesentlich auf sie gestützt. Die klassentheoretische Zuordnung des Anarchismus ist äußerst schwierig, auch wenn ein soziologisches Element durchgehend in den verschiedenen Formen des Anarchismus zu finden ist. So spielen vorbürgerliche handwerkliche oder bäuerliche Produktionsweisen, Produktionsweisen also, die noch nicht industriell durchrationalisiert sind, in allen Formen des Anarchismus eine konstitutive Rolle. Ich will dafür einzelne Beispiele aufgreifen.

      Natürlich war Michail Bakunin (1814–1876) ein revolutionärer Scharlatan. Er war buchstäblich bei allen Revolutionen gegenwärtig, die damals irgendwo in Europa abliefen, und der Auffassung, Wesentliches zu ihrem Gelingen beitragen zu können. Tatsächlich sind sie aber, wenn auch nicht durch sein Zutun, meist gescheitert, was auch er nicht verhindern konnte. Schon über Bakunins Mobilität haben sich Marx und Engels aufgeregt, die zeit ihres Lebens an einem Platz der Welt festgenagelt waren, Marx noch dazu in einem Museum.105 Das ist nur eine lustige Anekdote, aber wer einmal den Briefwechsel verfolgt, kann nicht übersehen, dass solche subjektiven Momente eine Rolle spielen. Bakunin hatte etwas Zigeunerhaftes an sich, während Sesshaftigkeit gewissermaßen die Definition für die Arbeitsmoral von Marx war, der am »Kapital« förmlich klebte und nicht weiterkam. Diese Form der Sesshaftigkeit, des Beständigen und dessen, was Geltung hat und lange dauert, was mit Schweiß erworben ist, alle diese Momente spielen im privaten Briefwechsel von Marx eine Rolle, und im Grunde ist das die Produktionsweise eines bürgerlichen Gelehrten, der sich bis zum Tode in seinen Ideen aufzehrt. Tatsächlich war Marx auch durchaus darauf bedacht, als Bürger zu gelten. Ich möchte das mit einer weiteren Anekdote illustrieren. Als eine seiner Töchter heiraten wollte, setzte sich Marx hin und fragte denjenigen, der um ihre Hand anhielt: »Sie wollen meine Tochter heiraten, wie ich erfahre. Was haben Sie denn anzubieten, was haben Sie für Besitz, haben Sie geregeltes Einkommen?«106

      Doch auch von solchen persönlichen Momenten abgesehen haben die Hektik, die Unbeständigkeit, das Zigeunerhafte, der Dilettantismus, der sich darin ausdrückte, dass Anarchisten innerhalb von zwei Tagen fertige Programme produzierten für irgendeine Bewegung, die im Gange war oder in Gang gesetzt werden sollte, diese Schnelligkeit, mit der sie auf Situationen reagierten, haben bei Marx und Engels größte Vorbehalte hervorgerufen.

      Was jedoch inhaltlich als Anarchismus verstanden wurde, ist sehr verschieden. Zum Beispiel war bei Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), der als Anarchist bezeichnet wird, die Wohnungsfrage, welche die Arbeiter tatsächlich berührte, entscheidend. Alle Auseinandersetzungen mit Proudhon, abgesehen von Marx’ »Misère de la Philosophie« (1847), drehen sich um diese Wohnungsfrage. Mit welcher Intensität sich auch Marx und Engels mit diesem Problem beschäftigt haben, ist kaum nachvollziehbar, wobei das Argument von Engels war, СКАЧАТЬ