Название: Sie senden den Wandel
Автор: Viviana Uriona
Издательство: Автор
Жанр: Кинематограф, театр
isbn: 9783838274645
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Diese Fragen lassen sich selbst durch ein Höchstmaß an Differenzierungen innerhalb des Kommunikationsbegriff weder besser noch schlechter beantworten, weswegen diese sehr weitgehenden Differenzierungen für diese Arbeit auch unterlassen werden. Diese Fragen lassen sich aber beantworten durch die Hinzunahme von Theorien, die zwar von Kommunikation handeln, aber eben auch von Macht und Gegenmacht, von den Gründen von Ausbeutung und Unterdrückung und von Strategien weltverändernder Praxis, auf die daher allesamt in dieser Studie verstärkt abgehoben wird.
4.2 Zum Begriff der Öffentlichkeit
Bereits Negt und Kluge attestierten dem Begriff der Öffentlichkeit eine »bemerkenswerte Schwammigkeit« (Negt, O. und Kluge, A. 1972). Einige seitdem und zuvor in den Sozialwissenschaften immer wieder besprochenen Probleme im Umgang mit dem Begriff der Öffentlichkeit sind wohl rein sprachlicher Natur und dies insofern, als der Begriff je nach kontextuellem Bezug verschiedene Bedeutungen haben kann, die wir freilich mühelos unterscheiden können.
Beispiel: Wer in aller Öffentlichkeit nackt spazieren geht und keine öffentliche Persönlichkeit ist, muss kaum fürchten, dass die veröffentlichte Meinung darüber die Öffentlichkeit informieren wird, zu deren Existenz, Ansichten und Meinung in der Literatur durchaus verschiedene Meinungen von Sozialwissenschaftler*innen veröffentlicht werden.
Mit dem ersten unterstrichenen Wort ist der offene Raum jenseits von Umfriedung oder häuslicher Sphäre gemeint. Die »öffentliche Persönlichkeit« ist ein lebender Mensch, der eine Bekanntheit bei vielen Menschen erfolgreich sucht oder schlicht erfährt. Mit der »veröffentlichten Meinung« sind große Medien gemeint, deren Gebrauch der Meinungsfreiheit besonders wirksam ist. Das dann folgende Wort »Öffentlichkeit« bezeichnet (im Unterschied zum ersten) eine sehr große Zahl von Medienempfänger*innen, und »veröffentlicht« meint publizieren, also die Zugänglichmachung von perpetuierten Gedanken in medienspezifischer Form an einen nicht individualisierbaren Empfänger*innenkreis.
Allerdings hätte es dieser Definitionsversuche gar nicht bedurft. Der kurze Satz war auch für sozialwissenschaftliche Laien völlig verständlich. Die sozialwissenschaftliche Hoffnung, aus der Kritik von Begriffen Erkenntnisse zu gewinnen, ist groß, ihre Wirkung auf die außeruniversitäre Praxis dagegen gering. Viel weiter trägt dort die inhaltliche Kritik an denen mit den kritisierten Begriffen in Zusammenhang stehenden Medieninstitutionen und deren Rolle in der Gesellschaft. Jürgen Habermas stellte 1962 in seiner Arbeit zum historisch-systematischen Strukturwandel der Öffentlichkeit fest: »Öffentlich« und »Öffentlichkeit« entstammen
»[...]aus verschiedene(n) geschichtliche(n) Phasen und gehen, in ihrer synchronen Anwendung auf Verhältnisse der industriell fortgeschrittenen und sozialstaatlich verfaßten bürgerlichen Gesellschaft, eine trübe Verbindung ein.« (Habermas, J. 1990 [1962]: 54)
Das dem Zeitalter des bürgerlichen Liberalismus entstammende und dort einmal utopisch-kraftvoll gemeinte Verständnis des Begriffs »Öffentlichkeit«26 suggeriert uns heute fälschlich (nach Überwindung des Feudalismus) die Existenz einer Gruppe von untereinander approximativ gleichen Bürger*innen, die Adressat*innen, Interessent*innen und sogar gleichrangige Produzent*innen von Informationen und Meinungen sein könnten. Damit wird ein künstlicher Archetyp eines »Volkes der Öffentlichkeit« konstruiert, das ein »öffentliches Interesse« und eine »öffentliche Meinung« inne hat und auch Ansprüche, z.B. darauf, öffentlich informiert zu werden.
Aber:
»Wenn es gelingt, den Komplex, den wir heute, konfus genug, unter dem Titel ›Öffentlichkeit‹ subsumieren, in seinen Strukturen historisch zu verstehen, dürfen wir deshalb hoffen, über eine soziologische Klärung des Begriffs hinaus, unsere eigene Gesellschaft von einer ihrer zentralen Kategorien her systematisch in den Griff zu bekommen.« (Habermas, J. 1990 [1962]: 58)
Das heißt, diese behauptete Öffentlichkeit (der approximativ Gleichen) existiert real noch nicht. Sie ist Utopie geblieben und die Behauptung der Realität der Utopie behindert deren Umsetzung. Der bürgerliche Liberalismus hat eben nicht die Gesellschaft der Freien und Gleichen hervorgebracht, sondern mit dem Kapitalismus eine Gesellschaft geschaffen, in der die Ungleichheit unter den für alle gleichen Gesetzen perpetuiert wird.
Wir leben in einer Klassengesellschaft. Ihre Öffentlichkeit ist ebenso antagonistisch gespalten wie es die Interessen derjenigen sind, die diese Öffentlichkeit im Wege der Kommunikation beeinflussen wollen. Keine Information und keine Meinung kann separat gedacht werden von dem jeweiligen Nutzen oder Schaden, den sie vor dem Hintergrund entgegengesetzter systemischer materieller Interessenlagen bewirkt.
Die vom Medienbetrieb (Luhmann) beständig reproduzierte Behauptung einer Öffentlichkeit betrifft dessen Funktionserhalt unter den konkreten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Denn grundsätzlich geht es dabei um die Gestaltung eines gesellschaftlichen und politischen Narrativs im Interesse des Kapitals bzw. zum Zwecke der Erhaltung des kapitalistischen Systems. (Neidhardt, F. 1994: 10)27 Dennoch hat der Begriff auch einen wahren Gehalt. Dort, wo seine Verwender*innen die Klassenverhältnisse innerhalb des Publikums anerkennen oder zumindest erahnen, lässt sich eine Inhaltsverschiebung konstatieren. Öffentlichkeit wäre dann so etwas wie die Summe der Menschen – mit unterschiedlichen Klassen- und Interessenlagen –, die medial erreicht werden kann oder soll. Der Begriff wäre dann ein schiefes Synonym für: uneinheitliches Publikum mit uneinheitlichen Interessen.
Soweit nicht anders erläutert, liegt dieses Verständnis von »Öffentlichkeit« (als uneinheitliches Publikum) dieser Studie zugrunde.
4.3 Zum Begriff »Kommunikation als Menschenrecht«
Ein zentraler Begriff dieser Studie ist der von der Kommunikation als einem Menschenrecht. Die in den USA und Lateinamerika übliche sprachliche Phrase »Kommunikation als Menschenrecht« ist im europäischen Raum bislang weitgehend unbekannt geblieben. Es bestehen auch große Unklarheiten hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs.
Teleologisch mag sich zunächst nicht erschließen, warum die menschliche Kommunikation durch irgendein Recht geschützt oder gestärkt werden müsse. Denn die Kommunikation scheint dem Menschen als Bedürfnis inne zu liegen. Doch so steht es ganz ähnlich mit dem Bedürfnis nach Nahrung. Die Tatsache, dass Menschen regelmäßig Hunger verspüren, macht sie noch nicht satt. Aus diesem Grund gewähren viele nationale Rechtsordnungen und auch bereits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 22) einen sozialen Schutz durch die Gesellschaft. Ein Recht auf Kommunikation hat teleologisch keine andere Funktion: Es würde einem menschlichen Bedürfnis zu einer (umfassenderen) Erfüllung verhelfen.
Juristisch-systematisch mag verwirren, dass einigen Rechten auch Pflichten gegenüber stehen. Wie müsste eine Pflicht zur Kommunikation aussehen? Allerdings sind die von Gesetzgeber, Rechtswissenschaft oder Gerichten ermittelten korrespondierenden Pflichten nur ganz selten exakte Spiegelbilder der Rechte.28 Selbstverständlich ist eine Pflicht zur Kommunikation ebenso abwegig wie die Pflicht, die eigene Meinung zu verkünden.
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