Название: Der Deutsche
Автор: Jens Jessen
Издательство: Автор
Жанр: Современная зарубежная литература
isbn: 9783866747845
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Übrigens entfaltete sich auch in der Bauhaus-Idee das Dogma der Natürlichkeit, mit dem paradoxen Resultat, dass Baukörper von einer Kantigkeit entstanden, die ohne organisches Vorbild sind. Das ist aber kein Widerspruch in der Theorie; der Natürlichkeitsbegriff des Bauhauses ist ganz abstrakt, eine Art Tugendideal ehrlichen Bauens. Organische Formen wären Lüge; die »Natur« des Architektonischen (so etwas wie dessen innere Bestimmung) besteht darin, Gehäuse zu schaffen und keine florale Landschaft.
So ist vieles von dem, was in der deutschen Zivilisation wie eine Kette des Missglückten, Zufälligen, Ungehobelten, wenn nicht Barbarischen erscheint, tatsächlich das Ergebnis tiefen Nachdenkens. Es ist fast tragisch, aber bei all den hässlichen Plätzen, trostlosen Bushaltestellen, unvorteilhaften Brillen und wenig kleidsamen Kleidungsstücken muss immer damit gerechnet werden, dass sie keinem Unvermögen, sondern einer höheren Vernunft, bürokratischen Vorschrift oder sogar raffinierten Berechnung gehorchen. Die grotesk unstrukturierten Hamburger Plätze, eigentlich bloß freigeräumte Straßenkreuzungen, mit ihren zurückgesetzten Eckhäusern, verrutschten Straßenfluchten, sind zum Beispiel keine Kriegsfolge, sondern Folge des Wiederaufbaus und seiner stadtplanerischen Vorgabe, für freie Luftbewegung zu sorgen. Die ist auch entstanden, aber um den Preis seelischer Beklemmung.
Und ähnlich ist auch der Umstand, dass ein Schuh nicht gut aussieht, in deutscher Perspektive kein Makel, sondern nur die vernachlässigenswerte Nebenfolge einer fabelhaft atmenden Sohle oder einer sinnreich verbreiterten Spitze, die das »freie Zehenspiel« ermöglicht, wie eine seinerzeit populäre Werbeaussage lautete.
Das freie Zehenspiel ist geradezu der Inbegriff eines spezifisch deutschen Kalküls, das kaum sonstwo in der Welt und schon gar nicht in romanisch geprägten Kulturkreisen verstanden wird. Wie hätte die einst legendäre Schuhsammlung der philippinischen Staatspräsidentengattin Imelda Marcos zustande kommen können1, wenn sie sich am freien Zehenspiel orientiert hätte? An natürlich gegerbten Ledersandalen, weit geschnitten genug, um Platz für eine schweißabsorbierende Frotteesocke zu haben? Es sind gerade Länder der Dritten Welt, die nicht verstehen, wie der märchenhafte Wohlstand der Deutschen so versessen aufs Praktische, Bequeme oder technisch Befriedigende sein kann, unter Hintanstellung von Eleganz, Schönheit und Stolz. Warum strebt so viel Geld ins Verschrobene?
Die Menschen ärmerer Länder blicken auf deutsche Gewohnheiten mit etwa der Verwunderung, mit der wir einen Mistkäfer seine Mistkugel rollen sehen oder einen Leoparden dabei beobachten, wie er eine Antilope, die sein eigenes Körpergewicht weit übersteigt, auf einen Baum hinaufwuchtet. Was soll die Anstrengung? Muss eine Mistkugel erst perfekt rund sein, um der Nachkommenschaft Schutz und Nahrung zu bieten? Aber wie der Deutsche hat auch der Käfer für alles seine Gründe. Die Kugelform bietet ein Maximum an Rauminhalt bei einem Minimum an Oberfläche, das muss von anderen Lebewesen, die andere Probleme zu lösen haben, nicht verstanden werden. Ebenso wenig wird der Leopard das exklusive Erfahrungswissen erläutern, das ihm sagt, eine mühsam erjagte Antilope sei nur auf dem Baum vor den Hyänen sicher, die sonst alles rauben, was sie selbst nicht erbeuten können.
Und so ist es auch mit den deutschen Seltsamkeiten. Sie gehorchen geheimen Notwendigkeiten, und was man braucht, um sie zu verstehen, ist meistens unsichtbar, eine Gedankenkette, voraussetzungsreich und kompliziert, aber nicht weniger gebieterisch als das angeborene Verhalten der Tiere, im Grunde etwas Vergeistigtes – so sonderbar es angesichts der plump praktischen Resultate klingen mag.
Das freie Zehenspiel beruht auf Metaphysik. Und diese, wie jede Metaphysik, beruht auf einer Reihe ererbter, nicht näher befragter Annahmen, über die Natur des Kosmos, die Bestimmung des Menschen, die innere Balance der Schöpfung – oder was weiß ich. Eine unbequeme, womöglich ungesunde Schönheit hat darin gar keinen Platz. Schönheit muss natürlich und praktisch sein. Leider hält der Deutsche oft auch den Umkehrschluss für wahr: dass Natürliches und Praktisches notwendig schön seien.
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