Название: Neun ungewöhnliche Krimis Juni 2019
Автор: Pete Hackett
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783745210118
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Zögernd setzte sich der Nachtwächter in Bewegung, während ihm wirre Gedanken durch den Kopf schossen.
Wer konnte um diese Uhrzeit noch in der Liberei tätig sein? Er wusste, dass die Andreana, wie die Bibliothek früher auch genannt wurde, längst nicht mehr öffentlich zugänglich war, nachdem der Bücherdiebstahl erhebliche Lücken in die Buchreihen gerissen hatte.
Sollte der Pfarrer von St. Andreas um diese Zeit noch über alten Schriften brüten? Vielleicht arbeitete er ja seine Predigt aus? Doch weshalb brannte kein weiteres Licht, und auch die Laterne direkt über der Tür der Liberei schaukelte dunkel im steten Wind.
Hier konnte etwas nicht stimmen, und nun schritt Nachtwächter Gerhard entschlossen auf die kleine Pforte zu. Als er die kalte Klinke in der Hand spürte und sie behutsam herunterdrückte, öffnete sich die Tür lautlos. Gerhard zögerte, bevor er eintrat, und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit im Inneren zu gewöhnen. Seine Blendlaterne wollte er nicht öffnen, um einen möglichen Dieb nicht vorzeitig zu warnen.
Ein dumpfer, muffiger Geruch schlug ihm entgegen, es roch nach altem Papier, Leder, aber auch nach Fäulnis und Schimmel. Den kleinen Raum hatte er schnell überblickt. Hier befand sich niemand.
Es gab nur eine Außentreppe in das obere Geschoss, die schmalen Fenster boten keinen Fluchtweg. Behutsam setzte der Nachtwächter einen Fuß auf die Treppe, verharrte lauschend für einen Moment, dann setzte er seinen Weg fort. Noch immer schimmerte ihm von oben der matte Schein einer Laterne entgegen und beleuchtete schwach die ausgetretenen Stufen. Als er vorsichtig weiter emporstieg, konnte er doch nicht vermeiden, dass der Schaft seiner Hellebarde gegen die Wand stieß und in der nächtlichen Stille einen Laut verursachte, der dem alten Mann selbst wie ein Schuss erschien.
Erschrocken verharrte er auf der Stufe und wagte kaum, auszuatmen. Fast gleichzeitig war das Licht erloschen, und Gerhard rief in die Dunkelheit:
„Hallo? Wer ist dort oben? Was geht hier vor?“
Seine Stimme klang merkwürdig krächzend, und als der Nachtwächter sich kräftig räusperte, hörte er hinter sich ein leises Rascheln. Noch ehe er sich auf der schmalen Treppe umdrehen konnte, fühlte er, wie ihn jemand am Kragen packte und nach hinten riss. Im nächsten Augenblick spürte er einen brennenden Schmerz am Hals, wollte schreien, aber er brachte nur noch ein Gurgeln heraus. Gerhards Hände ließen die Hellebarde fallen, seine Arme ruderten hilflos in der Luft und suchten Halt. Schließlich kippte der Nachtwächter nach hinten und war bereits tot, als er gegen seinen Mörder stieß. Gleich darauf erschien auf dem Treppenabsatz wieder ein Licht, und eine herrische Stimme erkundigte sich:
„Hast Du den Burschen erwischt?“
Statt einer Antwort kam nur ein unverständliches Grunzen von der kräftigen Gestalt, die soeben dem Nachtwächter den Hals mit einem schnellen Schnitt durchtrennt hatte.
„Gut, ich bin hier ohnehin fertig, wir können verschwinden.“
Wenig später verließen zwei Männer mit dunklen Umhängen und tief in die Stirn gedrückten Dreispitzen die kleine Bibliothek und wandten sich der Reichenstraße zu. Niemand beobachtete sie auf ihrem Weg zurück in die Stadt.
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2.
Der Besucher hatte erst wenige Minuten im Antichambrierzimmer gewartet und dabei einen eher gleichgültigen Blick auf die Säulen und die Decken geworfen. Was er sah, bestätigte ihn in seinem Vorhaben. Der Braunschweiger Hof hatte nur bescheidene Mittel zur Verfügung. Die Säulen waren zwar durchaus kunstfertig bemalt, konnten aber das geübte Auge des Besuchers nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich eben nur um eine Malerei und nicht um echten Marmor handelte. Auch die sparsame Ausmalung der Zimmerdecken im Schloss, die im Antichambrierzimmer völlig fehlte, zeigte, dass das Herzogtum noch immer seine Geldausgaben gering halten musste.
Zwar förderte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand die schönen Künste und vor allem die Wissenschaft am Collegium Carolinum, aber anders als sein stets großzügiger Vater Carl I. achtete er darauf, den Staatshaushalt nicht übermäßig zu strapazieren.
Die nahezu vollkommen leere Staatskasse, die er beim Antritt seiner Regentschaft vorgefunden hatte, füllte sich dank seiner weisen Entscheidung, dem Wunsch des englischen Gesandten nachzukommen. Hatte sein Vater noch starke Bedenken, so drängte ihn der Prinzregent schließlich erfolgreich, in den Subsidienvertrag mit England einzuwilligen, der eine Armee von etwa fünftausendzweihundert Mann zur Unterstützung der englischen Truppen im Aufstand der Kolonisten in Nordamerika aus dem Herzogtum entsandte. Allerdings hatte der alte Herr darauf bestanden, strengste Regeln für die Anwerbung der Soldaten zu erlassen, die bei hohen Strafen das Pressen der Rekruten verhinderte und dazu führte, dass sich überwiegend Ausländer, das heißt, Menschen, die nicht aus dem Herzogtum stammten, zum Dienste im fernen Amerika meldeten.
Dieses Subsidienheer füllte die herzogliche Kasse wieder auf erfreuliche Weise, und Herzog Carl Wilhelm Ferdinand konnte die größten Löcher innerhalb kurzer Zeit schließen.
Auch über diese Verträge wusste der heutige Besucher bestens Bescheid. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, einem Herrscher seine Dienste anzubieten, wenn er sich nicht in dessen finanziellen Verhältnissen auskannte. Um seine Unabhängigkeit zu beweisen, kaufte er im Vorfeld seiner Recherchen auch gern einige Schuldscheine auf. Der Mann wirkte auf die anderen Wartenden im Raum ehrfurchtgebietend. Man sprach ohnehin nur im gedämpften Tonfall miteinander, aber niemand wagte es, das Wort an den Fremden direkt zu richten, nachdem er einen eiskalten Blick bei seinem Eintritt in die Runde geworfen hatte. Seine spöttisch verzogene Miene zeigte den bereits seit früher Stunde Versammelten, was dieser edel gekleidete Kavalier von ihnen hielt.
Der Fremde trug ein Justaucorps aus dunkelblauem Samt, dazu Weste und Kniebundhose aus gleichem Material, alles üppig mit Goldblitze bestickt und mit einer gewaltigen, goldglänzenden Knopfreihe besetzt. Seine weißen Seidenstümpfe waren in Knöchelhöhe kunstvoll bestickt, seine Schuhe von erlesener Qualität, die Schuhschnallen schienen wie mit kleinen, funkelnden Diamanten besetzt.
Jetzt blickte er auf, als zwei Kammerdiener die Doppeltür zum Nebensaal öffneten und einer von ihnen mit lauter, wohltönender Stimme ausrief:
„Graf von Saint Germain – der Kammerherr erwartet Euch.“
Der Fremde richtete sich langsam auf und strich dabei an seinen Rockschößen entlang. Mit raschen, federnden Schritten war er an den Wartenden vorbei und verschwand in dem Raum, während die anderen mit langen Hälsen versuchten, einen Blick auf den Kammerherrn zu erhaschen, der am Ende des mit hohen Bücherregalen geschmückten Raumes an einem gewaltigen Schreibtisch saß.
Aber im nächsten Moment schlossen die Diener die Türen bereits wieder, und im Antichambrierzimmer erhoben sich aufgeregte, nur noch Verhalten flüsternde Stimmen über diesen СКАЧАТЬ