Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr. Timon Krause
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СКАЧАТЬ kapitalistischen Systems leiden müssen, ist diese unsere Bürde ja doch vergleichsweise gering.

      Was folgen muss, ist klar: wachsende Bewusstheit und wachsendes Verantwortungsbewusstsein. Niemandem ist mit moralischer Selbstgeißelung gedient, ebenso wenig wie mit unreflektiertem Reaktionismus (verantwortungsbewusst zu konsumieren ist effektvoller als radikale Entsagung, doch dazu später mehr). Wir sollten uns ja nicht nur der zunächst deprimierenden Einsicht öffnen, dass viele unserer Handlungen im täglichen Leben einen negativen Effekt auf die Natur und das Leben anderer haben. Wir sollten uns auch bewusst werden, welche Macht letztlich jeder von uns Angehörigen einer reichen Konsumgesellschaft besitzt. Dieser Einfluss geht weit über den engen Rahmen unseres Familienkreises hinaus: Wir sind politisch und wirtschaftlich gefragt, sonst würden die großen Unternehmen nicht solch einen immensen Aufwand betreiben, uns durch Werbung in ihrem Sinne zu Entscheidungen zu bewegen; sonst würde die Politik nicht immer wieder so dreist versuchen, Entscheidungen von großer Tragweite für die Allgemeinheit in Hinterzimmern zu besprechen und zu beschließen, um der Wählerschaft keine Angriffsfläche zu bieten.9 Im Gegensatz zu offen autoritär geführten Ländern haben wir noch genügend Freiheiten und Einfluss, um Unternehmen und Parteien zu Handlungen im Sinne des Allgemeinwohls anzutreiben, zu einer Handlungsweise, die nicht nur kurzfristigen Profit als Ziel hat, sondern unsere einzigartige Natur erhält und möglichst vielen Menschen ein würdiges, freies, friedliches Leben ermöglicht.

      Wir müssen uns offen eingestehen, dass eben dieses menschenwürdige Leben bei weitem nicht allen Erdbewohnerinnen und Bewohnern möglich ist, dass wir in Teilen die Verantwortung für diesen Missstand tragen, aber zugleich auch die Macht haben, etwas daran zu ändern. Und wen das Schicksal weit entfernter Völker nicht interessiert, der sollte so ehrlich mit sich selbst sein zuzugeben, dass unsere kapitalistische Wirtschaftsweise auch bei uns zu Verwerfungen führt, die den gesellschaftlichen Frieden in unseren Ländern gefährden, durch Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, durch stetig zunehmende Kinder- und Altersarmut und durch den wachsenden Zustrom von Kriegs- und Elendsflüchtlingen. Die Staaten Südeuropas, allen voran Griechenland, können ein bitteres Lied von den Auswirkungen der starr auf Haushaltsdisziplin getrimmten EU-Politik singen – Sozialleistungen, Renten, Gesundheitswesen, öffentliche Infrastruktur, überall wurde die durchschnittliche Bevölkerung geschröpft, um dem Diktat der Troika nachzukommen, während die großen Kapitaleigner ungeschoren davon kamen.10

      Wir müssen uns so schnell es nur geht an den Gedanken gewöhnen, dass dauerhaftes Wachstum und stetig zunehmender Reichtum nicht nur nicht möglich, sondern größtenteils widernatürlich und gefährlich sind, allen Hoffnungen auf anstehende technologische Quantensprünge und allen wohlklingenden Konzepten eines „Green New Deals“ zum Trotz. Wir müssen selbstkritisch sein und alte Gewohnheiten in Frage stellen.11 Wie gesagt: Nichts ist umsonst – irgendwer muss am Ende die Zeche zahlen.

      Um die Demaskierung aber auch konstruktiv und ermutigend anzutreiben, möchte ich die Behauptung, alles habe seinen Preis, noch einmal anders formulieren: Alles zählt! Auch wenn uns unser Einfluss global gesehen verschwindend vorkommen mag: er ist es nicht, und jede unserer Handlungen hat Konsequenzen, negative wie auch positive! Dazu ein unverfängliches Beispiel: Man stelle sich vor, einem langjährigen Kettenraucher gelingt es, von seiner Sucht loszukommen. Mit den Schachteln, die er im ersten Jahr nach seiner letzten Zigarette gespart hat, könnte er ein ganzes Zimmer seiner Wohnung tapezieren, mit dem Geld einen neuen Laptop oder ein neues Fahrrad kaufen. Tausende Zigarettenkippen weniger belasten das Grundwasser und verschandeln das Stadtbild. Tausende von Euro weniger fließen in ein Unternehmen, das mit der Sucht und Krankheit von Millionen von Menschen seinen Profit macht und die Gesundheitsbudgets weltweit belastet. Tausende von Euro, angesichts des Milliardenumsatzes der Tabakindustrie ein Witz, oder? Aber unser Nichtraucher wird womöglich anderen Rauchern zum Vorbild; der Sieg über seine Sucht findet im Bekanntenkreis Nachahmer, womöglich hält er eines Tages Seminare für Menschen, die sich das Rauchen ebenfalls abgewöhnen wollen – und wird er nicht seinen eigenen Kindern ein gutes Vorbild sein? Außerdem bleiben die unsichtbaren Folgen seines Verzichtes wie bei jeder präventiven Maßnahme zwar verborgen, ohne jedoch weniger wertvoll zu sein: Die Schäden seiner Umwelt durchs Passivrauchen und die Möglichkeit, als Raucher selbst an Krebs zu erkranken, sinken. Je weniger Menschen mit einer Kippe in der Raucherecke stehen, desto unattraktiver wird diese Situation für alle noch verbliebenen Raucherinnen und Raucher. Kurz gesagt: Jede positive Veränderung geht über den veränderten Umstand selbst hinaus, zieht Kreise, schlägt Wellen, und summiert sich im Laufe der Zeit zu einem immer gewichtigeren Baustein in einem großen Mosaik auf. Und vor allem kann sie Signalwirkung haben. Um tiefgreifende Veränderungen zu erreichen, braucht es nach dem Sozialpsychologen Prof. Harald Welzer drei bis fünf Prozent einer Gesellschaft, die vorangehen und die erforderliche Vorbildfunktion einnehmen.[4] Drei bis fünf Prozent: In dieser Rechnung erhalten die Auswirkungen unserer individuellen Handlungen sofort eine andere Gewichtung.

      Die Grenzen zwischen Privatem und Allgemeinheit sind fließend. Die erste Familie in einer europäischen Kleinstadt, die begann, Solarzellen auf ihrem Hausdach zu installieren, regte vermutlich den einen oder anderen Nachbarn an, es ihr gleichzutun. Mit einem Mal sparte das Stadtviertel monatlich mehrere Tonnen CO2 ein und machte sich ein Stück weit frei von den börsennotierten Energieriesen, die es mit Umweltpolitik erst dann genauer nehmen, wenn ihnen politisch die Pistole auf die Brust gesetzt wird. Der Verzicht Einzelner auf exzessiven Fleischkonsum oder der Erwerb fleischloser Alternativen regt andere Mitmenschen womöglich zum Nachdenken an. Und spätestens, wenn sich Menschen in Initiativen und Organisationen zusammentun, um etwas fürs Allgemeinwohl zu tun, vervielfacht sich die Macht der Einzelnen. Es mag oft unsexy erscheinen, sich für Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit zu engagieren, aber niemand kann behaupten, dass die Auswirkungen dieses Engagements nicht wünschenswert seien – oder vermisst etwa irgendwer FCKW, das für die Zerstörung der schützenden Ozonschicht in unserer Atmosphäre verantwortlich war, und das ohne den hartnäckigen Einsatz von Umweltschutzorganisationen womöglich heute noch im Einsatz wäre? Oder missgönnen wir den zahlreichen Angestellten in Billiglohnverhältnissen in unserem Land die Einführung eines Mindesteinkommens? Es behaupte niemand, Einzelne könnten nichts bewirken. Alles zählt! Jede Entscheidung, auch jeder zaghafte Versuch, kann Auswirkungen haben, womöglich Konsequenzen nach sich ziehen, die nur auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind. Viele Einzelne haben schon ihre Vereine, ihre Kirchengemeinden, ja manchmal sogar ihre Firma verändert, weil sie die Leitenden überzeugen konnten, mit etwas Aufwand große Verbesserungen für die Allgemeinheit erreichen zu können. Und als Konsumenten müssen wir uns zunächst nur der verwirrenden Vielfalt an Alternativen zu den marktbeherrschenden Unternehmen stellen. Das ist vielleicht unbequem, aber es ist mit Sicherheit nicht unmöglich.

      Fakt ist natürlich, dies geht nur auf Kosten unserer Zeit. Was im Umkehrschluss heißt: Ja, in erster Linie aus Zeitgründen bestellen wir alles bei jenem großen Onlinelieferanten, der leider auch für Lohndumping und die skandalöse Praxis, neuwertige Retourware teilweise aus Kostengründen zu vernichten, bekannt ist. Nähmen sich nur genug Menschen die Zeit für die entsprechende Recherche nach Alternativen, oder vielleicht auch einfach für den Einkauf im nächstgelegenen Fachgeschäft, wäre besagter Großhändler vielleicht bald nicht mehr der Monopolist, zu dem wir ihn gemacht haben. Aber dies nur am Rande.

      Alles zählt, auch der eine oder andere Euro mehr, den wir bereit sind, in Produkte zu investieren, über deren Hintergründe wir Bescheid wissen: Möbelstücke aus zertifiziertem Holz, Kleidungsstücke aus kontrollierter Fertigung, Finanzprodukte, die ethisch vertretbar angelegt werden, Lebensmittel aus der Region, in der wir leben. Wer oder was hindert uns noch daran, eine konsequente, umfassende Umkehr in Angriff zu nehmen?

      7 Der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes, einer Nähfabrik in Dhaka, Bangladesch, der über 1000 Menschenleben forderte, gilt als Paradebeispiel für die ausbeuterischen Verhältnisse, für die westliche Firmen und Konsumenten in der Dritten Welt verantwortlich sind. Seit der Katastrophe im Jahr 2013 wurde allerdings viel verbessert: Gerade in Bangladesch wurden die Arbeitnehmerrechte und Schutzstandards deutlich angehoben, die Gehälter gesteigert, sogar wirksame Umweltschutzstandards СКАЧАТЬ