Название: Gesammelte Erzählungen
Автор: Charles Dickens
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Сказки
isbn: 9783958555167
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Auf dem Wege zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, daß er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, so müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehhorchen, um so mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.
Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:
„Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn.“ Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: „Denke dran, was ich dir sagte, Bengel.“
Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.
Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.
„Das ist der Junge, Euer Gnaden“, sagte Herr Bumble.
Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den andern alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.
„Ach, das ist also der Junge?“ fragte er.
„Ja, Euer Gnaden“, versetzte Herr Bumble. „Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver.“
Oliver machte seinen schönsten Diener.
„Der Junge will also gern Kaminfeger werden?“ sagte der Friedensrichter.
„Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden“, sagte Bumble, „er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!“
„Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not leiden lassen, versprechen Sie das?“
„Wenn ich einmal gesagt habe, ich will, so werde ich es auch tun“, entgegnete Gamfield mürrisch.
„Ihre Ausdrucksweise ist nicht gerade fein, mein Freund, aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein“, sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, so hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.
„Ich denke das zu sein“, entgegnete der Meister mit einem häßlichen Blick.
„Daran zweifle ich nicht, mein Freund“, fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfaß.
Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfaß da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, so suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pulte herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blicke Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.
„Mein Junge“, sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Tone zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. „Mein Kind, du siehst blaß und verstört aus. Was ist dir?“
„Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble“, sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: „Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!“
Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Manne fortschicken.
„Nun“, sagte Herr Bumble, indem er feierlich Augen und Hände gen Himmel hob, „von allen lügnerischen, hinterlistigen Waisenkindern, die mir je vorgekommen sind, bist du der frechste.“
„Haltet den Mund, Gemeindediener!“ sagte der zweite alte Herr, als sich Herr Bumble in dieser Weise Luft gemacht hatte.
„Verzeihung, Euer Gnaden!“ entgegnete Bumble, der seinen Ohren nicht traute, „haben Euer Gnaden mich gemeint?“
„Jawohl. Sie sollen den Mund halten!“
Herr Bumble war starr. Einem Gemeindediener den Mund zu verbieten Das war ja Revolution.
Der Friedensrichter guckte seinen Kollegen bedeutungsvoll an und sagte dann:
„Wir versagen dem Lehrbriefe unsere Genehmigung“; damit schob er das Pergament beiseite.
„Ich hoffe“, stotterte Herr Limbkins, „Sie werden nicht glauben, daß die Behörde fahrlässig gehandelt hat, noch dazu auf das unhaltbare Zeugnis eines Kindes hin.“
„Wir sind nicht berufen, darüber eine Meinung auszusprechen“, versetzte der alte Herr ziemlich scharf. „Nehmen Sie den Jungen wieder mit und behandeln Sie ihn anständig. Er scheint’s nötig zu haben.“
Am nächsten Morgen wurde Oliver wieder für fünf Pfund ausgeboten.
Viertes Kapitel
Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben
Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloß dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das Beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonst wie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:
„Ich habe den beiden Weibern, die gestern abend starben, eben Maß genommen.“
„Sie werden noch reich werden, Herr Sowerberry.“
„Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble.“
„Die Särge sind auch dementsprechend klein“, erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.
Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte СКАЧАТЬ