Der Winterkönig. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Jörg Olbrich
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СКАЧАТЬ Mannes verstehen. Hätte er zehn Zentimeter weiter links gesessen, hätte ihn die Kugel getötet.

      Die Zuschauer schienen nichts davon mitbekommen zu haben, dass sich hinter ihnen beinahe ein tödlicher Unfall ereignet hatte. Lediglich König Ferdinand warf einen Blick zu den oberen Reihen. Der konnte auf die Entfernung aber unmöglich etwas gesehen haben. Die Gedanken rasten durch Antons Kopf. War es etwa die Absicht der Landsknechte gewesen, Kardinal Klesl zu ermorden? Sie zielten nach oben, da hätte es eigentlich keinen Treffer geben dürfen … Hatte der König am Ende sogar davon gewusst?

      Erst jetzt wurde Anton klar, dass die Kugel auch genauso gut ihn hätte treffen können. Ihm wurde schwindelig und er hielt sich krampfhaft an seinem Stuhl fest. Auf Kardinal Klesl, der von zwei seiner Bediensteten ins Schloss begleitet wurde, achtete er jetzt nicht mehr.

       Böhmen, 03. Juli 1618

      »Was ist hier nur passiert?«, fragte Magdalena mit Tränen in den Augen und deutete auf die abgebrannten Häuser des kleinen Ortes. Alles lag in Trümmern. In den Gassen lagen kaputtgeschlagene Stühle, Töpfe und Werkzeuge. Selbst die Kirche war nicht verschont worden und bildete nun ohne Dach den traurigen Mittelpunkt des Dorfes. Wo aber waren die Bewohner?

      »Ich hatte so etwas befürchtet«, sagte Philipp und legte Magdalena tröstend den Arm um die Schultern. »Dieses Ausmaß der Zerstörung habe ich aber nicht erwartet.«

      »Du hattest Recht, wir hätten nicht hierherkommen sollen. Meine Heimat existiert nicht mehr. Wer um Gottes Willen tut so etwas? Bisher habe ich geglaubt, dass sich der Krieg noch verhindern lässt. Hier sieht es aber so aus, als wäre er bereits in vollem Gange.«

      »Es sind die Söldner auf dem Weg nach Prag. Leider unterscheiden sie nicht zwischen Freund und Feind.«

      »Wenn das so ist, sind wir nirgendwo in diesem Reich mehr sicher.«

      Philipp antwortete nicht. Er wollte Magdalena nicht das Gefühl geben, dass er es bereute, sie in ihre Heimat begleitet zu haben. Nach dem Abend, an dem sie ihm eröffnet hatte, Prag verlassen zu wollen, war Magdalena noch schweigsamer geworden als vorher. Philipp hatte schließlich vorgeschlagen, zum Gasthaus ihrer Eltern zu reiten und gehofft, dass Magdalena mit ihm nach Prag zurückkam, wenn sie sah, dass sie hier nichts mehr ausrichten konnte. Es tat ihm entsetzlich leid, dass er ihr diesen grauenvollen Anblick nicht hatte ersparen können.

      Philipp hatte sich bei Polyxena von Lobkowitz zwei Pferde geliehen und sie gebeten, ihn für ein paar Tage aus dem Dienst zu entlassen. Zunächst war die Gräfin eher skeptisch gewesen, hatte aber schließlich zugestimmt, als Philipp ihr den Grund für seine Bitte erklärt hatte. Er und Magdalena waren am frühen Morgen losgeritten und hatten ihr Ziel gegen Nachmittag erreicht. Ohne Kutsche ließ sich der Weg bedeutend schneller bereisen.

      Am Gasthaus von Magdalenas Eltern hatte sich nichts verändert. Zu Philipps Erleichterung hatte man allerdings die Leichen weggeschafft. Sie waren zum Dorf geritten, weil Magdalena herausfinden wollte, wo man die beiden beerdigt hatte. Als sie die ersten Ruinen sahen, waren sie von den Pferden gestiegen und hatten diese an einem Baum festgebunden.

      »Es können aber doch nicht alle umgekommen sein«, sagte Magdalena mit trauriger Stimme.

      »Stimmt. Irgendjemand muss die Toten bestattet haben.«

      Philipp fing sich für diese Bemerkung einen bösen Blick ein und bereute sofort, dass er nicht sensibler reagiert hatte. Er litt mit Magdalena, aber es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen.

      »Lass uns durch den Ort gehen, vielleicht finden wir doch noch jemanden, der sich aus Angst davor versteckt hat, dass die Leute zurückkehren könnten, die dieses Unheil zu verantworten haben.«

      »Ich hoffe wirklich, dass hier noch jemand ist.«

      Die beiden gingen durch die einzige Straße, die mitten durch den kleinen Ort führte. Menschen sahen sie nicht. Zu Philipps erneuter Erleichterung aber auch immer noch keine Toten. Es musste schon eine Weile her sein, dass dieses Dorf verwüstet worden war. Nach der Hitze der letzten Tage hätten die Leichen keinen schönen Anblick geboten.

      »Willst du die einzelnen Häuser durchsuchen?«, fragte Philipp Magdalena, als sie den Ort durchquert und noch immer nichts gefunden hatten.

      »Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn hier noch jemand ist, müssen wir ihn finden. Aber wir bleiben zusammen.«

      Sie nahmen sich Haus für Haus vor, fanden aber nichts, was ihnen weiterhalf. Räuber mussten das Dorf nach seiner Zerstörung geplündert und alles Brauchbare mitgenommen haben. In den leergeräumten Vorratskammern fanden sie noch nicht einmal mehr ein Stück Brot.

      »Jetzt bleibt uns nur noch die Kirche«, sagte Philipp am Ende erschöpft. Magdalena folgte ihm durch den Eingang. Beide sahen entsetzt, dass selbst der Altar von den Räubern geschändet worden war. Der komplette Innenraum der Kirche war zerstört. Dort, wo einmal kostbare Verzierungen gehangen hatten, gab es jetzt nur noch kahle, verrußte Wände.

      »Noch einen Schritt weiter und ihr seid tot.«

      Philipp erschrak. Die Frauenstimme war aus dem hinteren Teil der Kirche gekommen, der in völliger Dunkelheit lag. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass die Unbekannte ihre Drohung wahrmachen würde. Was auch immer an diesem Ort geschehen war, wenn es Überlebende gab, mussten diese sehr vorsichtig auf Fremde reagieren.

      »Ich bin es: Magdalena.«

      »Lava?«

      »Ja.«

      »Ich dachte, du wärst tot.« Eine junge Frau mit langen, verdreckten Haaren und völlig verschmutzter Kleidung trat aus der Dunkelheit und blieb vor Magdalena stehen. »Du bist es tatsächlich«, sagte sie überrascht und senkte ihre Muskete.

      »Das ist Karla«, sagte Magdalena, noch während sie auf die Frau zuging und sie in den Arm nahm. »Ich bin so froh, dass du lebst!«

      »Wer ist der Kerl bei dir?« Das Misstrauen war deutlich aus Karlas Stimme herauszuhören.

      »Sein Name ist Philipp Fabricius. Er hat als Sekretär für die Statthalter in der Prager Burg gearbeitet, bevor es zum Aufstand gekommen ist.«

      »Deine Eltern haben davon erzählt, bevor das hier alles passiert ist. Sie sagten, dass du mit ihm nach Wien gereist bist.«

      »Das ist richtig. Als wir zurückgekommen sind, lag unser Gasthaus schon in Trümmern. Was in Gottes Namen ist hier geschehen?«, fragte Magdalena um einen ruhigen Tonfall bemüht.

      »Es begann im Kloster. Es wurde von einer Horde von fast fünfzig bewaffneten Männern überfallen. Sie kamen in der Morgendämmerung und trieben die Jesuiten aus ihren Betten. Einige der Mönche wurden sofort getötet. Die anderen flohen in Richtung Dorf.«

      »Wo sie aber auch nicht in Sicherheit waren«, vermutete Philipp.

      »Nein. Das waren sie nicht.« Karlas Stimme klang verbittert. Sie musste eine schreckliche Zeit hinter sich haben, wenn sie seit dem Überfall alleine im Dorf geblieben war.

      »Die Horde hat unseren Ort überrannt. Die Männer unterschieden nicht mehr zwischen Bewohnern und Mönchen. Wer ihnen zu nahe kam, wurde gnadenlos erschlagen. Sie hatten Fackeln dabei und brannten alles nieder. Nicht einmal vor unserer Kirche haben sie haltgemacht.«

      »Und vor dem Gasthaus meiner Eltern auch СКАЧАТЬ