»Aber Sie sind doch noch so jung?«, erwiderte Barbara.
»Ich bin vierunddreißig. Wissen Sie, das Problem bei Vertrauenslehrern ist, dass die älteren Kollegen im Normalfall als Autoritäts- und Respektsperson gesehen werden. Und der große Altersunterschied zu den Schülern kann zu Hemmungen führen, sich ihnen anzuvertrauen. In mir sehen sie eher noch so etwas wie eine ›Freundin‹.«
Barbara verstand. Sie hatte auch nicht an der Kompetenz ihrer Gastgeberin gezweifelt. Es war eigentlich nur reines Erstaunen über den Widerspruch zu ihrem Bild einer solchen Person.
Da Frau Richter nun schwieg, galt das als Zeichen, selbst das Wort zu ergreifen. In gedrängter Form schilderte sie die Ereignisse seit gestern Nachmittag. Sie gab auch einen Überblick über ihre familiären Verhältnisse, damit sich die Lehrerin ein Bild von der häuslichen Situation machen konnte.
»Gut. Ich habe die Fakten«, fasste Frau Richter zusammen. »Daniel zieht, wahrscheinlich schon mehrfach, Ihre Kleider an. Er hat Ihnen selbst gesagt, dass er sich als Mädchen fühlt, ein Mädchen sein möchte. Ihre Tochter hat wohl eine vage Ahnung, die aber noch nicht bestätigt wurde. Ihr Mann, der getrennt von Ihnen lebt, weiß bis jetzt gar nichts. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Richtig?«
»Ja, das beschreibt die Lage so ziemlich genau. Frau Richter …«
Sie wurde unterbrochen.
»Sagen Sie Anka, das vereinfacht das Gespräch.« Die Lehrerin lächelte ermutigend.
»Danke – Barbara. Wissen Sie, Anka, ich habe versucht, Daniel Zeit zu lassen, sich mir anzuvertrauen. Ich bin einen Schritt auf ihn zugegangen und habe gewartet, dass er das gleiche tut. Soweit waren wir heute schon. Aber dann ist wieder alles in ihm zusammengebrochen.«
»Barbara, eine Gewissensfrage. Akzeptieren Sie das, was da gerade passiert?«
Barbara nahm einen Schluck vom Mineralwasser.
»Natürlich war es erst einmal ein … ein Schock, als ich ihn so sah. Aber dann dachte ich: ›Was soll ich machen? Ich kann es doch nicht aus ihm herausprügeln – bildlich. Daniel ist doch mein Kind.‹ Ich habe mir die letzten Stunden nicht leicht gemacht. Aber mein Kind soll doch glücklich sein. Und wenn es das nur als Mädchen kann …«
Ein Kloß drückte auf ihren Hals und erstickte ihre Stimme.
Anka fühlte mit der Frau.
»Ich verstehe Sie gut. Ich habe zwar noch keine eigenen Kinder, aber ich kenne aus meiner Tätigkeit die Gefühle der Mütter. Sie haben für sich genau das entschieden, was Ihnen Ihr Herz sagt. Mehr konnten Sie bis jetzt einfach nicht tun.«
Sie sah Barbara in die Augen, und die erkannte, dass Anka ihre Entscheidung achtete.
»Danke, dass sie mir den Rücken stärken. Doch was mache ich mit meiner Tochter? Ich kann sie doch nicht länger belügen. Daniel war vorhin schon soweit, irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Ich glaube, er hatte in diesem Moment einfach genug von dem Versteckspiel – ohne an Konsequenzen zu denken. Ich konnte ihn gerade noch auf morgen vertrösten.«
Anka nickte verständnisvoll.
»Gerade deshalb müssen Sie es Ihrer Tochter sagen. Damit der häusliche Frieden nicht zerbricht. Ihre Tochter ist dreizehn, wie sie erwähnten. Ein dreizehnjähriges Mädchen kann das verstehen. Was sie daraus macht, ist allerdings ein anderes Kapitel. Versuchen Sie, ihr nahezulegen, was es für Daniel bedeutet! Ich denke, sie möchte auch das Beste für ihren Bruder.«
Barbara seufzte. Das Leben forderte sie wirklich heraus.
Die Lehrerin fuhr fort: »Und Ihrem Mann dürfen Sie es auch nicht vorenthalten. Erstens ist es der Vater von Daniel, und zweitens ergeben sich für die Zukunft Situationen, in denen auch sein Einverständnis nötig ist. Daniel ist ja noch minderjährig.«
›Auch das noch‹, dachte Barbara. ›Wenn das Schicksal zuschlägt, dann richtig.‹
Es war nach neun, als Barbara wieder nach Hause kam. Die Unterredung mit der Vertrauenslehrerin war sehr hilfreich gewesen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Und ihr war auch klar, dass sie diese Hilfe noch einige Male brauchen würde.
Für heute war es zu spät für weiteren Trubel. Nur ihren Sohn wollte sie noch informieren, wie das Treffen ausgegangen war. Sie klopfte an seine Tür.
»Daniel, darf ich?«
»Ja, komm rein!«
Daniel saß an seinem Tisch. Der Computer war an, ein Textprogramm geöffnet.
»Arbeitest du an etwas?«, fragte seine Mutter mit einem Nicken zum Bildschirm hin.
»Ja. Ich versuch, meine Gedanken etwas zu ordnen. So eine Art Tagebuch der Grausamkeiten.«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
Barbara setzte sich auf den angestammten Platz auf der Liege.
»Finde ich gut. Aber nenn es lieber ›Tagebuch einer neuen Zeit‹ oder so. Denn nichts, was mit dir geschieht, ist grausam. Es ist nur neu und ungewohnt. Und du wirst eine Menge lernen müssen. Auch wirklich schlimme Erfahrungen können da vorkommen. Doch wenn du dir sicher bist, überwindest du die.«
»Warst du bei Frau Richter?«
»Ja, und ich bin erleichtert, dass ich das getan habe. Deine Vertrauenslehrerin wird uns helfen, alles richtig zu machen. Du kannst ruhig zu ihr gehen, wenn du mal nicht weiter weißt. Sie behält alles für sich.«
Barbara bemerkte, dass auch Daniels Anspannung etwas nachließ. Sie konnte sich vorstellen, dass da einige Mauern einstürzten, die ihn gefangen gehalten hatten.
»Und was wird mit Ilsa? Das heute hat einfach nur genervt.«
»Tja, Frau Richter meint, wir müssen es ihr sagen, und zwar möglichst bald.«
Daniel zuckte zusammen.
»Dann sagt sie es Caro, und wenn das so weitergeht, kann ich gleich einen Aushang machen.«
Seine Mutter wusste, was jetzt kommen musste.
»Ich kann das verstehen. Aber schau mal – du willst doch nicht die ganze Zeit in deinem Zimmer hocken bleiben. Und was wird im neuen Schuljahr? Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, dann musst du ihn auch draußen, in der ›bösen Welt‹ vertreten. Alle, die das verstehen, werden dir helfen – gegen jene, die das nicht verstehen wollen. Und ich denke, mit der Zeit werden die ersteren immer mehr werden.«
Daniel seufzte laut.
»Es wird eine schwere Zeit werden, nicht wahr, Mama?«
»Ja, aber es wird auch eine schöne Zeit sein, weil du endlich, Stück für Stück, der Mensch wirst, der du wohl schon lange sein wolltest.«
»Schon sehr lange. Und ich glaube, ich habe mich fast entschieden. Danke. Hab dich lieb, Mama.«
Barbara stand langsam auf. Sie war froh, dass Daniel aus seinen düsteren Gedanken heraus gefunden hatte. Sie hatte ihm die Hand gereicht, und er hatte zugegriffen.
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