Название: Strategie als Beruf
Автор: Maximilian Terhalle
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783828874107
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Drei Verständnisse von Strategie für Entscheider
Henry Kissingers Verständnis von Strategie als Weltordnungspolitik beruht auf der Annahme, dass Strategie von einer klaren Konzeption der Zukunft abhängig ist. Carl von Clausewitz’ Denkmodell besteht aus explizit non-linearen Strategiedynamiken. Und Lawrence Freedman legt dar, dass Strategien als Entscheidungsprozesse durch kognitionspychologische Logikmodelle operieren. – Zusammen mit den drei vorgenannten Grundannahmen ermöglichen diese Ansätze wesentliche Vorteile bei der Entscheidungsfindung, gerade weil sie Regierungschefs/-mitgliedern und ihren engsten Beratern in einer ansonsten undurchdringlich komplexen Weltpolitik analytisch festen Überblick gewähren. Der so gewonnene, antizipierende Blick erlaubt es dem Entscheider, mit seiner Strategie Entwicklungen aktiv, nicht reaktiv, zu beeinflussen. Mit anderen Worten: Die drei Ansätze geben Entscheider den roten Faden an die Hand, der ihnen – ohne diese konzeptionellen Hilfsmittel – mit grosser Wahrscheinlichkeit aus der Hand genommen wird.
Henry Kissinger: Weltordnungspolitik als Strategie, Strategie als Konzeption der Zukunft
Weltordnungen und die Einflusssphären der Großmächte werden sicherheitspolitisch durch das Ende von Kriegen bestimmt (zuletzt: Kalter Krieg). Weltordnungen bevorteilen deshalb, wie angedeutet, zumeist eine Gruppe (die Sieger), womit andere, schwächere Akteursgruppen (die Verlierer) inhärent benachteiligt werden. Ordnungen sind somit für gewöhnlich einige Zeit lang stabil. Weil sie aber keine abstrakten Strukturen sind, sondern von, naturgemäß nie objektiven, Strategen im Sinne einer zu einem bestimmten Zeitpunkt stärksten Gruppe erdacht wurden und in deren Machtverständnis adaptiv konserviert werden, bevorzugen Ordnungen immer einige und gereichen anderen, unterschiedlich stark, zum Nachteil (Kissinger 2014; Terhalle 2015).21 Das heißt nicht, dass die Sozialisation eines ehemaligen Gegners in das eigene Lager nicht gelingen kann, zumal nach einem Krieg. Japan, Deutschland und Italien sind hier Beispiele aus der Zeit nach 1945. Auch schließt diese Annahme Möglichkeiten realpolitischer oder politikfeldbezogener Kooperation verschiedentlicher Intensität keineswegs a priori aus.
Das Sicherheitsdilemma aber, das der scheinbar stabile Status quo beinhaltet, bleibt der Weltpolitik immanent. Ohne akzeptierte Einflusssphären, die durch realpolitische Diplomatie unter den Großmächten auf Kosten kleinerer Staaten (nach-)verhandelt werden können, kann sich der geopolitische Revisionismus der unterlegenen Gruppe radikalisieren, auch wenn dies abhängig ist vom Grad der Dominanz der gegebenen Machtverhältnisse. Wie unterschiedliche Logiken der Radikalisierung von Revisionismus funktionieren, kann man im übrigen zu Genüge an der deutschen Geschichte studieren und dann – reflektiert – auf die Gegenwart (RUS, CHI) anwenden. In welchem Kontext und in welchem Mass sind Abschreckung, Konfrontation, Rapprochment oder Appeasement angebracht, in welchem bewirkt der Einsatz des jeweiligen Instruments das Gegenteil; wie bestimmt man strategisch den Grad von Abschreckung, Konfrontation, Rapprochments oder Appeasement? Fragen, die heute meist unausgesprochen, selten ausgesprochen (Macron 2019, 2020) der Debatte über die Zukunft der NATO zugrundeliegen.22
Für Kissinger ist deshalb alles strategisches Planen von der Formulierung einer Konzeption der Zukunft der internationalen Politik abhängig. Die Notwendigkeit hierzu begründet er damit, dass Strategie – wiewohl informiert von der Historie – immer an der Schwelle von der Gegenwart in eine ungewisse Zukunft hinein operieren muss. Die strategische Konzeption der Ordnung hält dabei Grundpfeiler und Kernziele der Zukunft fest, für die die Strategie anpassbare Optionen zu ihrer Erreichung anbieten muss. Sie tut das, indem das langfristige Ziel einer bestimmten Ordnung und deren Konturen strategisch im kurz- und langfristigen außenpolitischen Handeln als roter Faden reflektiert sein muss.
Kissinger sieht hierfür die Trias aus Instinkt, Urteilsvermögen und das Handeln im richtigen Augenblick als zentral an. Der feine Instinkt für erste Konturen sich undeutlich anbahnender, neuer Gelegenheiten zum weltpolitischen Manövrieren ist von enormer Bedeutung, da er dem Strategen anzeigt, wie nützlich die jeweilige Gelegenheit zur Erreichung der Zukunftskonzeption ist. Nur hierin liegt für ihn die Kunst des Möglichen. Nur so können Strategen, die qua natura nie mit vollständiger Information über und Kenntnis von der Zukunft ausgestattet sind, Gelegenheiten zum Handeln erkennen. Weit bevor andere die neuen Konturen begreifen, leitet der Instinkt so das Urteilsvermögen des Strategen an und eröffnet ihm Wahlmöglichkeiten (Kissinger 2019, 4–5; 1957, 324–30).23
Strategie hingegen, die „realistisches“ Zeitverständnis mit ‚unter den gegebenen Bedingungen möglich‘ gleichsetzt und dies fälschlicherweise als Bismarcks ‚Kunst des Möglichen‘ simplifiziert, missversteht gerade die Natur zukunftsorientierter Strategie.24 Deshalb insistiert Kissinger, dass Instinkt und Urteilsvermögen leitend sein müssen, da der Zeitpunkt, zu dem sich die Ungewissheit über die unklaren Konturen aufgelöst hat, auch der Zeitpunkt ist, an dem der Stratege die Dinge nur noch selten wesentlich in seinem Sinn beeinflussen kann. Leiten hingegen Instinkt und Urteilsvermögen den handelnden Strategen, hat er den notwendigen Spielraum, um den besten Zeitpunkt seines strategischen Handelns selbst zu bestimmen. Um dieser (im Kern bis heute unveränderten) Problematik zu begegnen, bedarf es
„[the] ability to project beyond the known. And when one is in the realm of the new, then one reaches the dilemma that there is really very little to guide the policymaker except what convictions he brings to it. … Every statesman must choose at some point between whether he wishes certainty or whether he wishes to rely on his assessment of the situation. … If one wants demonstrable proof one in a sense becomes prisoner of events“ (Kissinger zit. in Ferguson 2015).25
Ein aktiver nationaler Sicherheitsberater muss diese strategischen Qualitäten besitzen, um den Entscheidungsträger trotz nie vollständiger, geschweige denn gerichtsfester Informationslage mit passenden Optionen zum Führen durch Handeln zu bewegen. Es ist deshalb naheliegend, dass Kissinger dem aktiven, resoluten Strategen und Tatmenschen den Vorzug gibt, weil er nur durch ihn die Möglichkeit gegeben sieht, den jeweils instinktiv erkannten Spielraum erfolgreich zu nutzen: „Both sides of the Atlantic would do well to keep in mind that there are two kinds of realists: those [experts] who use facts and those [strategists] who create them” (Kissinger 1965, 249).26 Nationale Sicherheitsberater, die das realistisch Mögliche allein am gegenwärtig Erkennbaren ausrichten und dementsprechend grundsätzlich zurückhaltendes Handeln empfehlen, sieht Kissinger konsequenterweise nicht als geeignet an.27
Der Wille zum Handeln, der solcher strategischen Initiativkraft zugrunde liegt, muss dabei alle einem Strategen zur Verfügungen stehenden, sich potenziell bietenden und zuweilen manipulierbaren Mittel nutzen. Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, implizierte dies Anfang 2020, als er von einer neuen weltpolitischen Realität sprach, bestehend aus „issue linkage“ und „raw power politics“, „[where] we see economic tools, data streams, technologies, and trade policies used for strategic ends.“ Dabei spiegelt der bei der praktischen Umsetzung des strategischen Urteilsvermögens gewählte Stil die an der Zukunftskonzeption orientierte, scharfsichtige Entschlossenheit des Strategen wider. Zu den Formen dieses gegenüber nicht-verbündeten Staaten angewandten Stils gehören nicht nur aber auch Chuzpe, Finesse sowie „Wachsamkeit, Kampfbereitschaft und Kaltschnäuzigkeit“ (Schwarz 1985, 165; s.a. Welch 2005, 8–9).
Carl von Clausewitz: Denkmodell Strategiedynamiken
Clausewitzens in der Forschung heute unbestritten am meisten anerkannte Leistung besteht darin, nicht-lineare und reziproke Wirkungsdynamiken in Konfliktsituationen erkannt zu СКАЧАТЬ