Название: Der Mann ohne Eigenschaften
Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783969170380
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Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Und darum war es seit langem und vor allem auch ihr Mann.
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Leiden einer verheirateten Seele
Sie las in ihrem Leiden viel und entdeckte, daß ihr etwas verlorengegangen war, von dessen Besitz sie vordem nicht viel gewußt hatte: eine Seele.
Was ist das? – Es ist negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört.
Aber positiv? Es scheint, daß es sich da allen Bemühungen, die es fassen wollen, erfolgreich entzieht. Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, damals eingerollt in das dünngebürstete Kleid ihrer Korrektheit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehnsucht, die das Maschinenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protestes gegen sich selbst eine Weile lang ausgespritzt hat. Es mag auch sein, daß dieses Ursprüngliche in Diotima als ein Etwas von Stille, Zärtlichkeit, Andacht und Güte genauer zu bestimmen war, das nie einen rechten Weg gefunden hatte und beim Bleigießen, welches das Schicksal mit uns veranstaltet, in die komische Form ihres Idealismus geraten war. Vielleicht war es Phantasie; vielleicht eine Ahnung von der instinktiven vegetativen Arbeit, die täglich unter der Decke des Leibes vor sich geht, über der der seelenvolle Ausdruck einer schönen Frau uns anblickt; vielleicht kamen bloß unbezeichenbare Stunden, wo sie sich weit und warm fühlte, die Empfindungen beseelter zu sein schienen als gewöhnlich, wo Ehrgeiz und Wille schwiegen, eine leise Lebensberauschung und Lebensfülle sie ergriff, die Gedanken sich weit weg von der Oberfläche nach der Tiefe richteten, selbst wenn sie nur dem Geringsten galten, und die Weltereignisse fern lagen wie Lärm vor einem Garten. Diotima meinte dann unmittelbar das Wahre in sich zu sehen, ohne sich darum zu bemühen; zarte Erlebnisse, die noch keine Namen trugen, hoben ihre Schleier; und sie fühlte sich – um nur einiges aus den vielen Beschreibungen anzuführen, die sie in der Literatur dafür vorfand – harmonisch, human, religiös, nah einer Ursprungstiefe, die alles heilig macht, was aus ihr aufsteigt, und alles sündhaft sein läßt, was nicht aus ihrer Quelle kommt: Aber wenn das auch alles recht schön zu denken war, über solche Ahnungen und Andeutungen eines besonderen Zustands kam nicht nur Diotima niemals hinaus, sondern ebensowenig taten es die zu Rate gezogenen prophetischen Bücher, die von dem Gleichen in den gleichen, geheimnisvollen und ungenauen Worten sprachen. Es blieb Diotima nichts übrig, als daß sie auch daran die Schuld einem Zivilisationszeitalter zuschrieb, worin der Zugang zur Seele eben verschüttet worden ist.
Wahrscheinlich war, was sie Seele nannte, nichts als ein kleines Kapital von Liebesfähigkeit, das sie zur Zeit ihrer Heirat besessen hatte; Sektionschef Tuzzi bot nicht die rechte Anlagemöglichkeit dafür. Seine Überlegenheit über Diotima war anfangs und durch lange Zeit die des älteren Mannes gewesen; später kam noch die des erfolgreichen Mannes in geheimnisvoller Stellung dazu, der seiner Frau wenig Einblick in sich gewährt und den Nichtigkeiten, die sie treibt, mit Wohlwollen zusieht. Und von der Zeit der Bräutigamszärtlichkeiten abgesehn, war Sektionschef Tuzzi immer ein Nützlichkeits- und Verstandesmensch gewesen, den sein Gleichgewicht niemals verließ. Dennoch umgaben ihn die gut sitzende Ruhe seiner Handlungen und seines Anzugs, der, man könnte sagen, höflich ernste Geruch seines Körpers und Bartes, der vorsichtig feste Bariton, in dem er sprach, mit einem Hauch, der die Seele des Mädchens Diotima ähnlich erregte wie die Nähe des Herrn die des Jagdhunds, der die Schnauze auf sein Knie legt. Und so wie dieser gefühlhaft umfriedet hinterdreintrabt, hatte auch Diotima unter ernster, sachlicher Führung die unendliche Landschaft der Liebe betreten.
Sektionschef Tuzzi bevorzugte darin die geraden Wege. Seine Lebensgewohnheiten waren die eines ehrgeizigen Arbeiters. Er stand früh am Morgen auf, um entweder auszureiten oder, noch lieber, eine Stunde spazierenzugehn, was nicht nur der Erhaltung der Elastizität diente, sondern auch eine pedantisch einfache Gewohnheit darstellte, die, unerschütterlich durchgeführt, vorzüglich zum Bild verantwortungsvoller Leistungen paßt. Und daß er abends, wenn sie nicht eingeladen waren oder Gäste hatten, sich alsbald in sein Arbeitszimmer zurückzog, versteht sich von selbst, denn er war gezwungen, sein großes sachliches Wissen auf jener Höhe zu halten, in der seine Überlegenheit über die adeligen Kollegen und Vorgesetzten bestand. Ein solches Leben setzt feste Schranken und ordnet die Liebe der übrigen Tätigkeit ein. Wie alle Männer, deren Phantasie nicht vom Erotischen versehrt wird, war Tuzzi in seiner Junggesellenzeit – wenn er sich auch hie und da des diplomatischen Rufes halber in Gesellschaft seiner Freunde mit kleinen Theaterchoristinnen gezeigt hatte – ein ruhiger Bordellbesucher gewesen und übertrug den regelmäßigen Atemzug dieser Gewohnheit auch in die Ehe. Diotima lernte deshalb die Liebe als etwas Heftiges, Anfallweises, kurz Angebundenes kennen, das von einer noch stärkeren Gewalt nur einmal in jeder Woche losgelassen wurde. Diese Veränderung des Wesens zweier Menschen, die auf die Minute begann, um wenige Minuten später in ein kurzes Gespräch über nachzutragende Tagesereignisse und dann in planen Schlaf überzugehn, etwas, wovon man in der Zwischenzeit nie oder höchstens in Andeutungen und Anspielungen sprach (etwa so, daß man über die »patrie honteuse« des Körpers einen diplomatischen Scherz macht), hatte jedoch unerwartete und widerspruchsvolle Folgen für sie.
Einesteils wurde es die Ursache ihrer übermäßig angeschwollenen Idealität; jener offiziösen, nach außen gewandten Persönlichkeit, deren Liebeskraft, deren seelisches Verlangen sich auf alles Große und Edle ausdehnte, das in ihrem Umkreis sichtbar wurde, und so innig sich daran verteilte und damit verband, daß Diotima jenen die Männerbegriffe verwirrenden Eindruck einer mächtig glühenden, aber platonischen Liebessonne hervorrief, durch dessen Schilderung Ulrich auf ihre Bekanntschaft neugierig geworden war. Andrerseits aber hatte sich der breite Rhythmus ehelicher Berührung rein physiologisch in ihr zu einer Gewohnheit entwickelt, die ihre Bahnung für СКАЧАТЬ